Unter Donald Trump explodiert der israelische Siedlungsbau in den illegal besetzten Palästinensergebieten
Die völkerrechtswidrigen Siedlungen im besetzten Westjordanland stellen das zentrale Hindernis eines Friedens im jahrzehntelangen Nahost-Konflikt dar. Während die US-Israel-Beziehung in Washington seit Jahrzehnten eine Heilige Kuh ist und auch Barack Obama aus Friedensperspektive eine katastrophale Israel-Politik verfolgte, ist Donald Trump das mit Abstand Beste, was den Rechtsaußen-Falken der Netanyahu-Regierung je hätte passieren können. Neben einer Vielzahl wahrlich historischer, doch eher symbolischer Geschenke (Botschaft nach Jerusalem, Anerkennung Golanhöhen u.v.m.) ist es vor allem Trumps Wohlwollen gegenüber dem Siedlungsbau, der dauerhaft Schaden anrichten wird: Die Zahl jährlich neu gebauter Häuser ist unter Trump im Vergleich zu Obama um 25 Prozent gestiegen, die Zahl neu geplanter Häuser hat sich gar verdreifacht. Von Jakob Reimann.
Israels völkerrechtliche Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten mit seinen rund 700.000 Einwohnerinnen und Einwohnern gelten gemeinhin als das größte Hindernis in der Erreichung einer Zweistaatenlösung des Palästisrael-Konflikts – eine Einschätzung, die ich vollumfänglich teile, haben Jahrzehnte des Siedlungsbaus ein lebensfähiges Staatsgebilde Palästina doch praktisch unmöglich gemacht. Im Westjordanland schwimmen zerstückelte palästinensische Inseln auf einem Meer israelischen Territoriums: Es gibt schlicht und ergreifend kein auch nur im Ansatz zusammenhängendes Gebiet mehr, auf dem ein palästinensischer Staat gegründet werden könnte. Auch wenn uns Geisterbeschwörer in Deutschland, Israel, der EU, den USA und im Grunde überall, in NGOs und der Friedensbewegung, von links wie von rechts, gerne das Gegenteil erzählen: Die Zweistaatenlösung ist tot. Und der Hauptgrund sind die tagtäglich expandierenden Siedlungen in den besetzten Gebieten.
Israels völkerrechtliche Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten mit seinen rund 700.000 Einwohnerinnen und Einwohnern gelten gemeinhin als das größte Hindernis in der Erreichung einer Zweistaatenlösung des Palästisrael-Konflikts – eine Einschätzung, die ich vollumfänglich teile, haben Jahrzehnte des Siedlungsbaus ein lebensfähiges Staatsgebilde Palästina doch praktisch unmöglich gemacht. Im Westjordanland schwimmen zerstückelte palästinensische Inseln auf einem Meer israelischen Territoriums: Es gibt schlicht und ergreifend kein auch nur im Ansatz zusammenhängendes Gebiet mehr, auf dem ein palästinensischer Staat gegründet werden könnte. Auch wenn uns Geisterbeschwörer in Deutschland, Israel, der EU, den USA und im Grunde überall, in NGOs und der Friedensbewegung, von links wie von rechts, gerne das Gegenteil erzählen: Die Zweistaatenlösung ist tot. Und der Hauptgrund sind die tagtäglich expandierenden Siedlungen in den besetzten Gebieten.
Die Siedlungen
Im Sechstagekrieg von 1967 eroberte die israelische Armee die Sinai-Halbinsel und Gaza von Ägypten, die Golanhöhen von Syrien sowie Ost-Jerusalem und das Westjordanland von Jordanien. Israel begann rasch, in allen okkupierten Territorien Siedlungen zu errichten. Im Zuge des Israelisch-Ägyptischen Friedens von 1979 räumte Israel die Siedlungen auf dem Sinai und zog sich aus Ägypten zurück. 2005 wurden auch die wenigen Siedlungen in Gaza mit ihren rund 9.000 Einwohnern geräumt – und im Gegenzug auf einer Fläche der Größe meiner Wahlheimatstadt Dresden das größte Freiluftgefängnis der Welt eingerichtet, samt periodisch wiederkehrender Bombardierungen der Zivilbevölkerung Gazas. Alle anderen Gebiete – Ost-Jerusalem, Westjordanland, Golan – bleiben okkupiert und besiedelt; im Kriegsvölkerrechts-Sprech: „besetzt“.
Artikel 49 der Genfer Konventionen von 1949 stellt in diesem Kontext fest: „Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.“
Der Internationale Gerichtshof stufte die israelischen Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten aufgrund dieses Artikels 49 als völkerrechtlich illegal ein, ebenso der UN-Sicherheitsrat und die UN-Generalversammlung in einer Vielzahl an Resolutionen. Um es daher unmissverständlich klarzustellen: Jede israelische Siedlung in den besetzten Gebieten ist ein Kriegsverbrechen, jedes einzelne Haus ist völkerrechtswidrig und damit illegal. Das sieht im Grunde auch die ganze Welt so – selbstredend bis auf Israel und die USA als Israels Patron (sowie einige pazifische Schwergewichte wie Nauru, Palau oder die Föderierten Staaten von Mikronesien, die dann und wann gegen entsprechende UN-Resolutionen stimmen, um sich Washington anzubiedern).
Die Zahl der Siedler in den 134 offiziellen Siedlungen im Westjordanland beträgt anno 2020 463.353. Dazu kommen etwa 218.000 Israelis in zwölf Siedlungen in und um Ost-Jerusalem. Die Siedlungen werden teils nur von einigen Hundert Menschen bewohnt, jedoch gibt es auch nach israelischen Verhältnissen mehrere mittlere Großstädte wie die größte Siedlung, die ultra-orthodoxe Modiʿin Illit mit über 73.000 Einwohnern. Zu den offiziellen Siedlungen kommt eine unbekannte Zahl (wohl einige Zehntausend) von Siedlern, die in einem der 121 sogenannten „Outposts“ leben – kleine, meist landwirtschaftlich genutzte Gemeinden, oft nur einige Häuser, die selbst unter israelischem Recht offiziell illegal sind und dennoch geduldet und teils offen unterstützt werden.
Der Großteil der offiziellen Siedlungsneugründungen im Westjordanland fand in den 1970er (43 neue Siedlungen) und 1980er Jahren (66 neue) statt. In den 1990ern gab es „nur“ zwölf und im neuen Jahrtausend nur zwei Neugründungen. Um internationalem Druck den Wind aus den Segeln zu nehmen, herrscht offiziell ein Moratorium auf Siedlungsneugründungen, welches jedoch allein durch plumpe Semantik permanent ausgehebelt wird: mittels ebenjener Outposts. Allein seit 2012 wurden 32 Outposts neugegründet, die, wie gesagt, selbst nach israelischem Recht illegal sind, allein die Hälfte davon ab 2017 unter US-Präsident Trump, wie ein Bericht der israelischen Friedens-NGO Peace Now vom Sommer 2019 offenlegt. Vor-Ort-Ermittlungen der israelischen Haaretz deckten auf, dass lokale und staatliche Behörden teils „direkt involviert“ in die Neugründungen sind und den Outposts „de facto Schutz gewähren“. Die Gründung neuer Outposts wird sogar „häufig aus öffentlichen Mitteln finanziert“, konstatiert die Peace Now-Untersuchung. Die „[Netanyahu-]Regierung ermutigt ihrerseits zum Bau“ neuer Outposts. Das Hochbrisante an dem Bericht: Es wurde zur Politik der Netanyahu-Regierung, diese illegalen Siedlungen im Nachhinein zu „legalisieren“, „weit weg von der öffentlichen Aufmerksamkeit“. 15 Outposts wurden so bereits in „unabhängige Siedlungen oder ‚Nachbarschaften‘ existierender Siedlungen“ überführt, „mindestens 35 weitere Outposts befinden sich in diesem Legalisierungsprozess“ – das Moratorium zur Gründung neuer Siedlungen ist eine Farce und die unverhohlene Täuschung der israelischen und der weltweiten Öffentlichkeit seitens der Netanyahu-Regierung.
Insgesamt leben also rund 700.000 Israelis in völkerrechtswidrigen Siedlungen in der Westbank. Neueste Zahlen aus einem im März erschienenen Bericht von Peace Now ergeben, dass die Siedlungsbauaktivität unter der extrem Netanyahu-freundlichen Trump-Regierung regelrecht explodiert ist – die Zahl der jährlich neu gebauten Häuser in den Siedlungen lag in den drei Jahren unter Trump bei durchschnittlich 2.267 neuen Häusern und damit im Schnitt 25 Prozent höher als in den Jahren der Obama-Administration. Die Zahl der neugeplanten Häuser hat sich unter Trump gar verdreifacht.
Wer wohnt in den Siedlungen?
Als ich in Nablus im Westjordanland lebte und von Palästina nach Israel wollte, fuhr ich zuerst mit dem Großraumtaxi in Richtung der Grenzstadt Qalqiliya und ließ mich vom Fahrer einen halben Kilometer vor der Stadt am Kreisverkehr rauswerfen. Von dort trampte ich dann über den einige Hundert Meter entfernten Grenzübergang – zumeist in den Autos israelischer Siedler aus dem besetzten Westjordanland. Offensichtlich „Europäer“ auf meine Stirn geschrieben, musste ich in den allermeisten Fällen nicht einmal meinen Pass zeigen und wir wurden an der schwer bewachten Grenze einfach durchgewunken. Der einfachste und schnellste Weg rüber – anders jedoch die vielen palästinensischen Pendler aus weiten Teilen der Westbank, die den Qalqiliya-Grenzübergang jeden Tag per Fuß überqueren müssen, um auf Basis ihrer monatsweise erteilten Arbeitserlaubnis auf Plantagen oder Baustellen in der israelischen Grenzregion zu arbeiten. Sie verbringen meist mehrere Stunden täglich an der Grenze, durchlaufen Schikanen und Endlosprozeduren. Die Male, die ich mit ihnen in der Schlange stand, kamen mir als Europäer mit meinem eingeklebten Westbank-Visum im Pass von den israelischen Grenzsoldaten noch mehr Verachtung und Herablassung entgegen als den palästinensischen Arbeitern selbst.
Die Siedler, die ich auf diese Art beim Trampen kennenlernte, waren zumeist äußerst sympathisch, offen und hilfsbereit. Es entwickelten sich oft angenehme Gespräche – konnten die Ansichten des offensichtlich linken Ausländers zu ihrer „Wohnsituation“ doch erahnt werden, hielten sich beide Seiten stillschweigend daran, bei diesen kurzen Begegnungen die Politik ausnahmsweise mal außen vor zu lassen. Auch auf den Landstraßen innerhalb der Westbank wurde ich zu später Stunde öfters von netten jungen – und meist bekifften – Siedlern im Auto mitgenommen; als Deutscher alles kein Problem. Andere Male wurden wir am großen Ariel-Kreisverkehr auf unsere Mitfahrgelegenheit nach Nablus wartend von jungen Siedlern angepöbelt und aus dem Auto heraus mit Kippen beschnipst. Einmal lief ich mit meiner Freundin in der Nacht auf einer Landstraße entlang, ein schwarzer SUV hielt, vier halbstarke Siedler stiegen aus. Wir wurden bepöbelt, bedrängt und belästigt, auch sexuell, ihre Schusswaffen steckten demonstrativ und offen sichtbar im Gürtel. Ich persönlich habe also sehr gemischte Erfahrungen mit den Siedlern der Westbank gemacht.
Entgegen den gängigen Klischees ist die Bevölkerung in den Siedlungen keineswegs eine ideologisch monolithische Gruppierung, oder gar eine aktivistische Bewegung, sondern heterogen und mit unterschiedlichsten Backgrounds und Intentionen ausgestattet – obwohl die Menschen in den Siedlungen in der Tendenz zweifelsohne konservativer sind als jene in den liberalen Mittelmeermetropolen wie Tel Aviv oder Haifa. Nur etwa ein Drittel zieht es aus ideologischen Motiven in die Siedlungen im Westjordanland – beziehungsweise nach Judäa und Samaria, wie es im offiziellen Regierungssprech heißt und die alttestamentarischen Bezeichnungen für die heutigen Palästinensergebiete südlich von Jerusalem (Judäa) und nördlich davon (Samaria) meint. Auch diese zumeist orthodoxen oder ultra-orthodoxen Siedler lassen sich über diverse Abstufungen weiter in Untergruppen einteilen: Die religiös-ideologischen Zionisten, die hier die größte Subgruppe darstellen und die Besiedlung Palästinas als ihre göttliche Pflicht ansehen, begreifen ihren aktivistischen Ansatz zur Schaffung eines starken Israels als beschleunigenden Faktor zur Ankunft des Messias und damit zur Erschaffung von Gottes Reich auf Erden. Die anti-zionistischen (Ultra-)Orthodoxen hingegen lehnen den Staat Israel in seiner Gesamtheit als blasphemische Entität ab, da nur der Messias höchstpersönlich die jüdische Diaspora zur Freiheit führen könne.
In den letzten fünf, zehn Jahren ist parallel ein gänzlich anderer Trend, ein regelrechter Boom erkennbar: Immer mehr junge, säkulare Familien zieht es in die Siedlungen, wie Haaretz exzellent dokumentiert. Diese zumeist unpolitischen, ideologiefreien und areligiösen Millenials sehen in ihrem Umzug in die Westbank weder die Erfüllung einer biblischen Pflicht, noch begreifen sie sich als menschliche Speerspitze der expansionistischen Politik der Netanyahu-Regierung – einzig die hohe Lebensqualität in den Siedlungen ist für sie ausschlaggebend, gute Bildung, Infrastruktur und Naturverbundenheit. Wer für denselben Preis eine mittelmäßige Dreiraumwohnung in Tel Aviv oder aber ein eigenes Haus mit fünf Zimmern, großem Garten und Pool in der Siedlung Karnei Shomron erwerben kann – wird bei der Wahl Letzteren das Label, bei den liberalen Freundinnen in Tel Aviv nun als „Siedler“ gebrandmarkt zu sein, rasch verkraften.
Siedlungen als alimentierter Lifestyle – die Rolle der Ultra-Orthodoxen
Ein wesentlicher, von der Regierung genau so intendierter Pull-Faktor, aus Israel in die Siedlungen im Westjordanland zu ziehen, ist wirtschaftlicher Not geschuldet. So zieht es besonders viele ärmere Israelis aus den Mittelmeermetropolen oder Jerusalem in die stark subventionierten Siedlungen. Insbesondere die explodierenden Mieten in den Städten können sich viele Menschen schlicht nicht mehr leisten. (Für eine 19-Quadratmeter-Einraumwohnung im heruntergekommenen Florentin-Viertel in Tel Aviv zahlten wir vor vier Jahren schlappe 1.300 Dollar Miete.) Die Regierung in Jerusalem pumpt im Vergleich zu Kernisrael Unmengen an Steuergeldern in die Siedlungen, mit Zusatzkosten von rund 350 Millionen Euro pro Jahr. So werden etwa Landkäufe und andere Investitionen in den Siedlungen mit bis zu 70 Prozent subventioniert oder kostengünstige Darlehen an „Auswanderer“ verteilt. Hinzu kommen üppige Steuergeschenke und deutlich höhere Gehälter von Staatsbediensteten in den Siedlungen, etwa von Lehrern oder Professorinnen.
Eine Studie des israelischen Macro Center for Political Economics aus dem Jahr 2014 ergab, dass die Regierung jeder Siedlerin und jedem Siedler in der Westbank jährlich im Schnitt mit 1.638 US-Dollar zusätzlich unter die Arme greift, was mehr als das Dreifache von dem ist, was Leute in Tel Aviv oder Jerusalem an staatlicher Subventionierung erhalten. Auch speist sich nahezu die Hälfte der verfügbaren kommunalen Finanzhaushalte der Siedlungen in der Westbank aus Finanzspritzen des Staates (47 Prozent), während diese im Landesdurchschnitt nur etwas über ein Viertel ausmachen (29 Prozent). Die Siedlungen hängen buchstäblich am Nabel des Jerusalemer Finanzministeriums – und locken in der Umkehr Menschen aus den Armenvierteln der Metropolen an.
Eine besondere und konfliktträchtige Rolle nehmen in diesem Komplex die Ultra-Orthodoxen ein. Sie bilden zumeist stark isolierte Communities und leben zu 45 Prozent unter der Armutsgrenze. In der israelischen Gesellschaft machen die Ultra-Orthodoxen einen Anteil von rund zehn Prozent aus, in den Siedlungen stellen sie hingegen ein Drittel der Bevölkerung, was zum Teil zwar über die hohe ideologisch-theologische Anziehungskraft von „Judäa und Samaria“ erklärt werden kann, sich oft jedoch auf schlichten ökonomischen Pragmatismus gründet. Während Israel insgesamt eine historisch niedrige Arbeitslosenquote von drei Prozent aufweist, geht von den ultra-orthodoxen Männern gerade einmal jeder zweite einer bezahlten Tätigkeit nach, in den Siedlungen sogar nur 40 Prozent. Und während die Frauen im Schnitt nicht nur 6,9 (!) Kinder bekommen, sondern auch die Haupternäherinnen der Familie sind – widmen sich die Männer lieber dem lebenslangen Tora-Studium. Auch gilt die mehrjährige allgemeine Wehrpflicht für sie nicht. „Ultra-orthodoxe Führer bestehen darauf, dass ihre jungen Männer der Nation durch Gebet und [Tora-]Studium dienen“, schreibt die Times of Israel, „und dass die Integration in das säkulare Militär und die Arbeitswelt ihren Lebensstil untergraben würde“.
Für viele Ultra-Orthodoxe ist daher das maximal aus Steuergeldern alimentierte Leben in den Siedlungen im Westjordanland auf Kosten der hart arbeitenden Menschen in den Metropolen ein auskömmlicher Lebensentwurf: Ihre bloße physische Existenz im Heiligen Land erfüllt die Wünsche der Regierung – und ihrer Auffassung nach auch die von „Gott“ –, während die Tramfahrerin in Jerusalem und der Kellner in Haifa gezwungen sind, für dieses Leben zu zahlen und dabei selbst jeden Tag ums ökonomische Überleben kämpfen. Die Folge dieses Widerspruchs sind immer stärker brodelnde Konflikte in der israelischen Gesellschaft – einhergehend mit einem zunehmenden Unverständnis vor allem unter jungen arbeitenden Israelis darüber, warum sie große Teile der Siedler alimentieren sollten.
Siedlerterrorismus
Jeder dieser Zuzüge in die Siedlungen, aus welchen Gründen auch immer, jedes neu gebaute Haus in den Siedlungen verringert die Aussicht auf einen gerechten Frieden, da die Löcher im Schweizer Käse namens „Palästina“ jeden einzelnen Tag unumkehrbar größer werden: Da alle Siedlungen eine massive militärische Infrastruktur aus Checkpoints, Basen und massiver soldatischer Präsenz mit sich bringen, schafft jede Erweiterung einer Siedlung und jede Neugründung eines Outposts in Beton und Stacheldraht materialisierte Fakten und damit auch – wenn wir denn in martialische Rhetorik abgleiten wollen – eine „Frontverschiebung“. In diesem Geiste ist eine weitere wichtige Siedlersubgruppe zu verstehen, deren Mitglieder ihre bloßen Existenzen buchstäblich als militärische Waffen begreifen: die ultrareligiösen, gewaltbereiten, oft schwer bewaffneten Rechtsradikalen, deren literale Auslegung der Heiligen Schriften an jene der Islamisten um Al-Qaida oder der evangelikalen rechtsaußen Christianisten in den USA um Vizepräsident Mike Pence erinnert. Vollkommen zu Recht erklärte der damalige Verteidigungsminister Ehud Barak (Labor) 2011 über diese Gruppierung: „ohne jeden Zweifel reden wir hier von Terroristen“.
Exemplarisch sei hier auf die äußerst sehenswerte Dokureihe Radicalised Youthauf Al Jazeera verwiesen, in der extremistische Jugendbewegungen weltweit portraitiert und in einer Folge die Praktiken und Weltanschauungen der israelischen Hilltop Youth dokumentiert werden: eine terroristische Bewegung zumeist junger Siedler, die einerseits den Staat Israel stürzen und an dessen Stelle eine „reine jüdische Existenz“ setzen will und sich andererseits der Errichtung illegaler Outposts und blutigster Gewalt gegen Palästinenser bedient. Der israelische Talmud-Gelehrte Hillel Gershuni von der Hebrew University in Jerusalem spricht gar vom „Aufstieg einer jüdischen ISIS im Westjordanland“. Anhänger der Hilltop Youth zerstören vielfach die Ernten palästinensischer Farmer, fällen deren Olivenbäume, begehen Brandanschläge gegen palästinensische Wohnhäuser und greifen immer wieder palästinensische Kinder auf deren Weg zur Schule mit Steinschleudern und Messern an. Mein Professor in Nablus erzählte mir, wie er viele Male selbst bezeugte, wie jugendliche Siedler von den Hügeln aus palästinensische Autos auf den Landstraßen mit Steinen oder Schusswaffen angriffen. Der junge Hilltop-Aktivist Uzi Shabat erklärt die „Preisschild“-Politik der Gruppe, nach der jeder vermeintliche Angriff auf die illegalen Outposts – ob nun von Palästinensern oder israelischen Sicherheitsbehörden begangen – maximal gerächt werden, einen „Preis“ haben müsse: „Wenn jüdisches Blut vergossen wird, wird das Blut des Feindes tausendmal mehr vergossen.“
Ein besonders grausamer Fall eines solchen „Preisschild“-Anschlags, der weltweit für Aufregung sorgte, ereignete sich im Sommer 2015 im Dorf Duma nahe Nablus, wo ich selbst zu der Zeit an der An-Najah University arbeitete. In der Nacht zum 31. Juli verübten zwei maskierte Jugendliche einen Brandanschlag auf zwei Häuser der Dawabsheh-Familie. Der 18 Monate alte Ali verbrannte bei lebendigem Leibe, Mutter Riham (90 Prozent verbrannte Haut) und Vater Sa’ed (80 Prozent) erlagen Tage und Wochen später ihren Verbrennungen. Der vierjährige Ahmad überlebte mit schweren Verbrennungen an 60 Prozent seiner Haut und lebt nun mit seinem Großvater Hussain. Zwei Verdächtige wurden angeklagt, von denen einer bereits wieder auf freiem Fuß ist. Ein Dritter – Kopf der Terrorgruppe von Duma und Enkel des berühmtberüchtigten Terroristen Rabbi Meir Kahane – wurde nach zehn Monaten Haft freigelassen. In den Tagen und Wochen nach dem Anschlag waren die Anspannung und Fassungslosigkeit der Menschen in der Westbank, unter meinen Studentinnen, Kolleginnen und Freunden in Nablus, regelrecht greifbar. Insbesondere das verbrannte Baby Ali wurde zum Symbol der Trauer um die Opfer des rechtsradikalen Siedlerterrorismus – und von kriminellen Palästinensern als Rechtfertigung missbraucht für Monate der Gewalt gegen israelische Sicherheitskräfte und Zivilistinnen, die „Messer-Intifada“, die folgen sollten: das „Preisschild“ hat zwei Seiten und es dreht und dreht sich, Vendetta als die Sprache der geistig Armen und Verzweifelten, auf dass die Gewaltspirale sich nie aufhöre zu drehen.
Netanyahus „privater Santa Claus“ – Auftritt Donald Trump
Doch was ist nun die Rolle des US-Präsidenten in all dem? Seit Jahrzehnten ist die US-Israel-Beziehung bekanntlich überparteilich eine Heilige Kuh in Washington. Und um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auch Barack Obama verfolgte eine grauenhafte Israel-Politik. In seiner Amtszeit stieg die Zahl der Siedler um weit über 100.000 an. Er tat nichts, um im Sommer 2014 das Massaker von Gaza zu verhindern, das den verheerendsten Krieg gegen Gazas Zivilbevölkerung seit der Besetzung 1967 darstellt. Obama schnürte Israel noch im September 2016 – kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt – ein historisches Hilfspaket in Höhe von 38 Milliarden US-Dollar über zehn Jahre. Und seine Entscheidung Ende Dezember 2016, mit seiner eigenen Tradition zu brechen und eine Resolution des UN-Sicherheitsrat, die den israelischen Siedlungsbau verurteilte, durchzuwinken, anstatt wie sonst per Veto zu versenken, ist nur einer der vielen Taschenspielertricks des Narzissten Obama: Mit einer seiner letzten Amtshandlungen wollte er – seine Memoiren schon scharf im Blick – als der Präsident in Erinnerung bleiben, der den Nahost-Friedensprozess voranbrachte. Nichts könnte entfernter von der Wahrheit sein!
Doch mit Donald Trump hatten die Netanyahu-Regierung und rechte pro-israelische Gruppen in den USA nun plötzlich einen derart willfährigen Supporter im Oval Office wie seit der israelischen Staatsgründung 1948 nicht. Von Beginn seiner Präsidentschaft an machte Trump der israelischen Rechtsaußen ein Geschenk nach dem anderen: Er erkannte Jerusalem als Hauptstadt Israels an und verlegte die US-Botschaft dorthin – beides völkerrechtswidrig, wie nicht zuletzt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einem Rechtsgutachten zweifelsfrei klarstellt. Auch schloss Trump die palästinensische Botschaft in Washington und stellte Hilfszahlungen nach Palästina in Millionenhöhe ein. Im März 2019 erkannte Trump die israelische Souveränität über die okkupierten syrischen Golanhöhen an und brach damit eine UN-Resolution, die Republikaner-Legende Ronald Reagan 1981 selbst mitgetragen hat (von dem Trump übrigens sein Make America Great Again geklaut hat). Als Dank bekam der infantile Narzisst Trump von Netanyahu eine illegale Siedlung namens Trump auf dem Golan geschenkt. Diese Liste könnte noch um einiges weitergeführt werden: Vollkommen zu Recht nennt Haaretz Trump daher Netanjahus „privaten Santa Claus – das ganze Jahr über“.
Doch neben diesen zwar historisch bedeutsamen, doch am Ende eher symbolischen Deklarationen und Völkerrechtsbrüchen – die von einem auch nur im Ansatz mit Vernunft ausgestatteten US-Präsidenten mit einem Fingerschnipp umgekehrt werden können und hoffentlich werden – ist in der direkten Konsequenz das Wohlwollen gegenüber dem illegalen Siedlungsbau im Westjordanland das unscheinbarste, doch wohl destruktivste Geschenk von Netanyahus „Santa Claus“. Die israelische NGO Peace Now ermittelte in einer Studie vom März 2020, dass in den drei Jahren der Trump-Präsidentschaft allein in der Westbank (ohne Ost-Jerusalem) im Schnitt 2.267 neue Wohnhäuser pro Jahr gebaut wurden, was 25 Prozent über dem Durchschnittswert der Obama-Präsidentschaft liegt (1.807). Diese Zahlen umfassen die tatsächlich in einem Jahr gebauten Häuser. Doch Netanyahu träumt groß und will in der Ära des Trump-Schlaraffenlands noch alles abgreifen, was politisch irgendwie möglich ist. Denn: Neben den gebauten lag die Zahl der neugenehmigten und neugeplanten Häuser in den Siedlungen 2019 bei stolzen 9.413 Einheiten, was in etwa auch den Zahlen für 2017 und 2018 entspricht – und damit mehr als dem dreifachen Wert der letzten beiden Jahre der Obama-Präsidentschaft.
Die Associated Press spricht hier vom „Trump-Effekt” und erklärt Trumps siedlungsfreundliche Politik damit, dass „sein innerster Kreis von Nahost-Beratern langjährige Verbindungen zur Siedler-Bewegung unterhält“. Jared Kushner etwa, Trumps Schwiegersohn und US-Chef-Unterhändler der israelisch-palästinensischen Friedensgespräche, hat über seine Familienstiftung direkt in Siedlungen im Westjordanland investiert und profitiert so von diesen – Korruption und Klüngel im globalem Maßstab. Trumps siedlungsfreundliche Politik gipfelte schließlich darin, dass seine Regierung seit November letzten Jahres die illegalen Siedlungen im Westjordanland als nicht länger „inkonsistent mit dem Völkerrecht“ betrachtet, nur um mit seinem absurden, von Jared Kushner verhandelten „Nahost-Friedensplan“ im Januar 2020 de facto gänzlich „Israels Souveränität über die [besetzten Palästinenser-]Gebiete anzuerkennen“. Allein im Januar und Februar 2020 hat die Netanyahu-Regierung dann auch bereits 7.582 neue Siedlungshäuser geplant, was schon jetzt nur noch leicht unter den Gesamtwerten der drei Jahre zuvor liegt. All diese Zahlen führen dazu, dass die Siedlerpopulation in wenigen Jahren um viele Zigtausende anwachsen wird, auch weit über Trumps Amtszeit hinaus.
Unter Trump explodiert der illegale Siedlungsbau – er und Netanyahu setzen alles daran, das Hirngespinst eines lebensfähigen palästinensischen Staates endgültig und ein für alle Mal auf den Müllhaufen der Geschichte zu verbannen.
Titelbild: Gerardo C.Lerner/shutterstock.com
Geen opmerkingen:
Een reactie posten