donderdag 5 november 2020

Europa: Der tyrannische Kontinent

 

Der tyrannische Kontinent

Der tyrannische Kontinent

Die einstige Vorzeigeregion der „Freien Welt“ setzt auf Polizeistaat und soziale Kälte. Exklusivabruck aus „Europa — Ein Nachruf“.

Die Fliehkräfte bestimmen die Entwicklung der Europäischen Union. Sie sind zahlreich. Politisch findet eine Rückbesinnung auf den Nationalstaat statt, die in der Hysterie über die Ausbreitung des Coronavirus im Frühjahr 2020 zu einem Zusammenbruch EU-europäischer Strukturen geführt hat. Jedes einzelne Mitglied erließ unterschiedliche polizeistaatliche Maßnahmen zur Einschränkung von Bewegungsfreiheit und Bürgerrechten sowie einzelstaatliche Notstandsverordnungen. Die Gemeinsamkeit bestand — zynisch gesprochen — in der gegenseitigen Abschottung auf Basis nationalstaatlicher Grenzen.

In ökonomischer Hinsicht verstärken sich die Desintegrationsprozesse. Die Kluft zwischen strukturschwachen Regionen und Ländern auf der einen und Zentralräumen auf der anderen Seite wird tiefer. 

Die sogenannten Rettungspakete für Griechenland, Portugal und Irland in den Jahren 2010 bis 2018 haben der Öffentlichkeit die regionalen Disparitäten drastisch vor Augen geführt, ohne sie auflösen zu können. Die Massenwanderung aus Ost- und Süd-Europa in Richtung Zentren sind sichtbarer Ausdruck dieser Ungleichheit. Sie entleert periphere Gebiete und beschert den Zentralräumen Arbeitsmarkt- und Wohnraumprobleme. Beim Ausscheiden Großbritanniens aus der EU, das weiter unten noch behandelt wird, fusionierten politische und ökonomische Argumente zu einer Abkehr von Brüssel.

„Heute müssen wir zugeben, dass der Traum von einem gemeinsamen europäischen Staat mit gemeinsamen Interessen, einer gemeinsamen Vision (...), dass die geeinte Europäische Union eine Illusion war.“

Niemand geringerer als der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, ein bekennender EU-Euphoriker, brachte auf diese Weise bereits im Mai 2016 seine ganze Enttäuschung über das Scheitern der Brüsseler Union zum Ausdruck (1). Damals wusste Tusk noch nichts vom Brexit und hatte noch keine Ahnung vom Umgang der einzelnen Mitgliedsstaaten mit der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, dem Umgang mit dem Coronavirus.

Der französische Präsident Emmanuel Macron wiederum äußerte sich gegenüber dem Wirtschaftsmagazin Economist deprimiert über die Zukunft der Gemeinschaft und zugleich alarmiert über seine eigene: 

„Wenn wir weiter machen wie bisher (...) werden wir von der Bildfläche verschwinden“ (2).

Das vorgebliche Ziel der Gründerväter, ein Aufgehen der europäischen Völker in einer wie immer konstruierten Supranation als „Vereinigte Staaten von Europa“ ist obsolet geworden. Stattdessen „wächst überall der Anteil der EU-Skeptiker“, wie der Sozialwissenschaftler und Mitbegründer von Attac Deutschland, Peter Wahl, schreibt, „sowohl in den Bevölkerungen, wie alle einschlägigen Umfragen belegen, als auch bei den politischen Akteuren aller Lager“ (3). 

So ist zum Beispiel Frankreich in seiner Position zur Europäischen Union tief gespalten. Die Mehrheit ist EU-skeptisch und steht zur Nation. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Elabe befragte Anfang 2019 vor den EU-Wahlen 10.000 Franzosen und Französinnen. 73 Prozent von ihnen gaben an, mehr Rückhalt im Nationalstaat zu sehen als in der Brüsseler Union, nur 34 Prozent sahen dies umgekehrt (4).

Die Verantwortlichen in Brüsseler versuchen, vor solchen Realitäten die Augen zu verschließen. Nur manchmal, in Stunden der Verzweiflung, entfleucht einem wie Donald Tusk ein oben zitierter Stoßseufzer. Ansonsten wird mit aller Kraft versucht, nationale Eigenständigkeiten im Keim zu ersticken, was freilich wiederum radikalere Gegenpositionen provoziert.

Der Umgang mit Italien im Frühherbst 2018 stellt in dieser Hinsicht ein Lehrbeispiel dar (5). „Roms Budgetpläne alarmieren Brüssel und Börsen“ (6). Mit Titeln wie diesem überschrieben Ende September 2018 meinungsbildende Medien ihre Beiträge über die Veröffentlichung des Haushaltsplans der italienischen Regierung. Die Frontstellung kann deutlicher nicht zum Ausdruck gebracht werden. Auf der einen Seite steht eine gewählte Regierung, ihr gegenüber eine vom EU-Rat ohne demokratische Legitimation bestimmte EU-Kommission und die Börsen, vulgo auch „Märkte“ genannt. 

Zu verinnerlicht haben Mainstream-Journalisten die für sie alternativlose Brüsseler Herrschaft, als dass ihnen die eigentlich entlarvende Botschaft solcher Überschriften auffiele. Ein mit parlamentarischer Mehrheit erarbeiteter Budgetplan beunruhigt die Börsen und mit ihnen die EU-Granden. Mit erstaunlichem Selbstverständnis steht die Journaille auf der Seite von autoritärem Suprastaat und Austeritätsmaßnahmen gegen den „Populismus“, der im Falle Italiens Ende 2018 als „Koalition linker und rechter Populisten“ umschrieben wird.

Die tatsächlich seltsame Koalition aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung legte also Ende September ihre erste in Zahlen gegossene Politik, den Budgetentwurf für 2019, vor. Die daran enthaltene Neuverschuldung wurde mit 2,4 Prozent des BIP ausgewiesen, verblieb also innerhalb der Maastricht-Vorgaben. Weil aber die Staatsverschuldung mit 130 Prozent weit jenseits der von der EU erlaubten 60-Prozent-Marke lag, empörte sich der für die fiskalische Zwangsjacke zuständige EU-Kommissar Pierre Moscovici und sackten die Börsenkurse ab. Man erwartete sich in Brüssel einen Kniefall Roms vor dem Kapital, also den „Märkten“, wie ihn Jahre zuvor die linke griechische Regierung gemacht hatte, nachdem sie vom Volk per Referendum mit dem Gegenteil beauftragt worden war.

Was erregte die Kommissions- und Börsengemüter dermaßen, dass sich Rom sogleich mit Drohungen konfrontiert sah? Der italienische Budgetentwurf für 2019 sah ein Grundeinkommen für Arbeitslose über einen Zeitraum von maximal drei Jahren vor, eine Erhöhung der Mindestpensionen von 500 auf 780 Euro und eine ebensolche Anhebung der Sozialhilfe sowie die Verteilung von pachtfreiem, kostenlosem Ackerland inklusive Gewährung eines zinsfreies Darlehens auf 20 Jahre für kinderreiche Familien.

Des Weiteren sollten Kleinbetriebe weniger Einkommenssteuer zahlen und ein staatliches Programm für öffentliche Investitionen vor allem in die Infrastruktur aufgelegt werden — kurz davor war die privat betriebene Autobahnbrücke in Genua zusammengebrochen. Zusätzlich dazu wollte die Links-Rechts-Regierung liberale Gesetze ihrer Vorgänger, die von Sozialdemokraten beschlossen worden waren, rückgängig machen. Dazu gehörten die Streichung der Erhöhung des Pensionsalters, das von 65 auf 67 Jahre angehoben worden war, sowie das Aus für die 2019 geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer von 22 auf 24,2 Prozent.

Brüssel und die Börsen waren alarmiert. Warum? Weil mit Grundeinkommen ausgestattete Arbeitslose vielleicht demnächst nicht mehr so billig am Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, Kleinbetriebe gegenüber monopolistisch auftretenden Großkonzernen am Leben erhalten werden und kinderreiche Familie ihre Subsistenzgrundlage verbessern. Auch könnte man in Rom auf die Idee kommen, Infrastruktur wieder zu verstaatlichen und sogar Überlegungen anstellen, wie man staatlicherseits Einnahmen von Kapitalseite requirieren könnte, wenn mit der ständigen Erhöhung von Massensteuern wie der Mehrwertsteuer einmal Schluss ist. Ob solcher Aussichten sind Finanzmärkte und Kapital ihrem Interesse folgend zu Recht alarmiert; und die Empörung Brüssels zeigte, auf welcher Seite die EU-Bürokratie stand und steht.

Am 23. Oktober 2018 lehnte dann die EU-Kommission in einem bis dahin beispiellosen Vorgang den Budgetentwurf eines Mitgliedsstaates — Italiens — ab und gab Rom drei Wochen Zeit für „Nachbesserungen“, sprich: für die Streichung sozialer Maßnahmen. Weil die Koalition aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung trotz medialen Dauerfeuers standhielt und den Austeritätsbegehren aus Brüssel nicht nachgab, erhöhte die EU-Kommission den Druck und leitete Mitte November 2018 ein sogenanntes Defizitverfahren gegen Italien ein. Kniefall oder Strafzahlung lautete die Botschaft, diese Maßnahme war bis zu diesem Zeitpunkt noch an keinem EU-Mitgliedsland durchexerziert worden, hätte sich aber für Rom bei weiterer Weigerung, den neoliberalen Vorgaben zu trotzen, mit 0,5 Prozent des BIP, geschätzten 9 Milliarden Euro, negativ zu Buche schlagen können (7). 

Am 18. Dezember erfolgte dann der durch den enormen Druck erwartbare Kniefall. Italiens Wirtschafts- und Finanzminister Giovanni Tria legte dem EU-Kommissar Moscovici einen überarbeiteten Budgetentwurf vor, dessen Neuverschuldung nun nicht mehr 2,4 Prozent des BIP, sondern nur mehr 2 Prozent vorsah. Damit stehen Rom vier Milliarden weniger Euro zur Verfügung, um ein Grundeinkommen für Arbeitslose und eine Senkung des Renteneintrittsalters zu finanzieren. 

Dass der Kniefall vergleichsweise weich ausfiel, dürfte die italienische Regierung dem gleichzeitig stattfindenden sozialen Aufruhr in Frankreich zu verdanken gehabt haben. 

Dort standen wütende Bürgerinnen und Bürger in gelben Westen auf den Straßen und insbesondere den Kreisverkehren und protestierten monatelang gegen den harten Austeritätskurs der französischen Regierung. Dieser Schock saß den Gralshütern der Austerität in Brüssel noch in den Knochen, als sie den neuen italienischen Haushaltsplan absegneten.

Gänzlich anders gelagert ist der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau um die Frage der Souveränität einer nationalen Justiz. Doch auch hier geht es letztlich um den Totalitätsanspruch der Europäischen Union. Warschau wurden bereits zwei Klagen angehängt, um die von der rechten Regierung unter der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) beschlossene Justizreform zu Fall zu bringen. In einem sogenannten Artikel-7-Verfahren wird eine „Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit“ geprüft; und ein Eilantrag vor dem Europäischen Gerichtshof soll das polnische Gesetz über die Herabsetzung des Pensionsalters für Höchstrichter von 70 auf 65 Jahre zu Fall bringen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob Brüssel prinzipiell ein niedriges Pensionsalter ablehnen würde, doch anders als im Fall Italien, wo die EU aus Kapitalüberlegungen längere Arbeitszeiten favorisiert, birgt der polnische Fall brisanten parteipolitischen Sprengstoff.

Die Ausgangslage ist eine machtpolitische. Die nationalkonservative PiS-Regierung sieht sich seit ihrem Amtsantritt im November 2015 mit einem ihr feindlich gesinnten Justizpersonal, das aus Kommune-Zeiten und von liberalen Vorgängerkabinetten stammt, konfrontiert. Diese loszuwerden, hat sie sich zur Aufgabe gemacht. Brüssel steht dagegen; nicht deshalb, weil die Kommissare personelle Änderungen ablehnen, sondern weil es ihnen nicht genehme Personen sind, die von der PiS in höchste Richterämter gehoben werden sollen.

Wenige Monate vor dem Wahlsieg der PiS am 25. Oktober 2015 hatte nämlich die in Umfragen bereits weit zurückliegende liberale Bürgerplattform (PO) ein neues Gesetz über den Verfassungsgerichtshof beschlossen, obwohl der polnische Präsident Andrzej Duda appellierte, keine schnellen Änderungen im Justizsystem vorzunehmen. Dann wurden in der letzten Parlamentssitzung vor den Wahlen am 8. Oktober 2015 noch rasch fünf neue Verfassungsrichter bestimmt, obwohl deren Posten erst nach den Wahlen im November und Dezember frei werden sollten. Der Vorgriff auf das Justizpersonal war mit Kalkül gemacht, er sollte auch nach der verlorenen Wahl das Oberste Gericht politisch entlang der von 39,9 Prozent auf 24,1 Prozent zusammengeschrumpften Opposition ausrichten. 

Brüssel ließ sich über diesen seltsamen Vorgang nicht vernehmen; es waren immerhin die richtigen Richter auf zweifelhafte Art bestellt worden. Der neue, von PiS dominierte Sejm hob die Ernennungen der fünf PO-Richter auf, in zwei Fällen wurde dem vom Verfassungsgerichtshof stattgegeben, die anderen drei Fälle blieben strittig. Nun gingen die rechten Nationalkonservativen daran, die personelle Zusammensetzung des Verfassungsgerichts mit einem Pensionstrick zu ändern und beschlossen ein Gesetz, das den Ruhestand für Höchstrichter von 70 Jahren auf 65 Jahre vorverlegt. Dieses betrifft 16 von 27 Richtern, was PiS genug Handhabe für die Ernennung von neuem, den Rechten ergebenem Personal gibt (8).

Darüber tobt Brüssel. Sein Umgang mit der Rechtsstaatlichkeit ist allerdings, wie wir im Rückblick auf die gesamte Entwicklung der Frage des Justizpersonals in Polen gesehen haben, ein instrumenteller. Denn während die fragwürdige Ernennung von Richtern durch Parteifreunde des EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk mit schweigender Zustimmung quittiert wurde, setzten die EU-Granden alle Hebel in Bewegung, um personelles Revirement durch die PiS, das nicht ins liberale, EU-konforme Konzept passt, zu verhindern.

Innerer Zerfall

Mitte Oktober 2018 erließ dann der Europäische Gerichtshof in Luxemburg eine einstweilige Verfügung, mit der er tief in die polnische Souveränität eingriff. Die Herabsetzung des Pensionsalters für die obersten Richter von 70 Jahren auf 65 Jahre wurde sistiert, Polen musste der Anordnung folgen und bestätigte dies auch im Monat darauf. Damit, so der Tenor der EU-Kommission und ihren medialen Sprachrohren, sei die Unabhängigkeit der polnischen Justiz wieder hergestellt ... indem sie von Brüssel abhängig gemacht wurde, möchte man hinzufügen.



Quellen und Anmerkungen:

(1) Zitiert in: https://www.zeitschrift-luxemburg.de/stell-dir-vor-es-ist-europa-und-keiner-geht-hin/#_ftn1, 6. April 2020.
(2) Zitiert in: Ruptures. Le nouveau Bastille-République-Nations. Paris, 26. November 2019.
(3) Peter Wahl, Stell Dir vor, es ist Europa — und keiner geht hin! Mai 2016. In: https://www.zeitschrift-luxemburg.de/stell-dir-vor-es-ist-europa-und-keiner-geht-hin/#_ftn1, 6. April 2020.
(4) Umfrage des Instituts Elabe, zitiert in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Februar 2019.
(5) Die folgenden Absätze zu Italien und Polen sind eine überarbeitete Fassung aus: Hannes Hofbauer, Europäische Union: Dem Kapital ergeben, der Demokratie abhold. In: Ullrich Mies (Herausgeber), Der Tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. Wien 2019, Seite 69 bis 73.
(6)  Wiener Zeitung vom 29./30. September 2018.
(7)  Der Spiegel vom 21. November 2018.
(8) Siehe dazu: Magdalena Bainczyk, Die umstrittene Justizreform in Polen. In: WeltTrends. Das außenpolitische Journal, Nr. 143, Potsdam September 2018, Seite 30 folgende.

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