Die Krise des Systems
Ist Migration grundsätzlich zu begrüßen? Oder nicht vielmehr wichtiger Bestandteil globaler Ausbeutungsstrukturen? Exklusivabdruck aus „Kritik der Migration“.
Die medial und politisch dominierende Darstellung von Migration als Zeichen von Weltoffenheit und Diversität prallt allerdings zunehmend auf die Wirklichkeit der gesellschaftlichen und politischen Kosten. Weil eine strukturelle sozio-ökonomische Kritik an Mobilität insgesamt – mit Ausnahme ökologischer Ansätze, die allerdings in der Migrationsfrage nicht gefragt werden – fehlt oder hintertrieben wird, konnte die politische Rechte an ihrer Stelle das Opfer der weltweit zunehmenden ungleichen Entwicklung, den Migranten und die Migrantin, zum Sündenbock stempeln. Sie befeuert damit einen rassistischen Diskurs.
Die politische Linke wiederum schwankt zwischen Schockstarre und der Übernahme liberaler Postulate. In diesen wird Migration, getreu ihrer Verwertbarkeit und in multikultureller Blauäugigkeit, zu einem nicht hinterfragbaren positiven Bekenntnis. Die ihr zugrunde liegende weltweite Ungleichheit bleibt ausgeblendet beziehungsweise wird einem Hilfsgedanken untergeordnet. Damit verstellt der einzelne, von Krieg, Krise oder Umweltzerstörung gezeichnete Migrant den Blick auf die Funktion von Migration.
Tatsächlich bildet diese den Schlussstein im Mosaik globalistischer Interventionen, deren wirtschaftliche und/oder militärische Ausgriffe Millionen von Menschen ihre Lebensgrundlage entziehen. An die Abfolge Schießen-Flüchten-Helfen und ihre ständige Wiederkehr haben sich nicht nur die Zyniker dieser Welt bereits gewöhnt. Sie zu durchbrechen, hat sich der vorliegende Text zur Aufgabe gemacht.
Das liberale Paradigma des Globalismus
„Während noch in den 1990er-Jahren Einwanderung fast ausschließlich als Gefahr und Problem beschrieben wurde, erinnert sei an die geschmacklose Metapher vom ‚vollen Boot‘, wird Migration heute zunehmend als notwendiges, gar erfreuliches Phänomen angesehen.“
Im Jahr 2018 scheint obiges Zitat wie aus der Zeit gefallen. Erschienen ist es nur vier Jahre zuvor, 2014, in einem von zwei deutschen Gewerkschaftern herausgegebenen Band.
Dass sich die Einschätzung von Autor und Herausgeber Patrick Schreiner nur wenige Monate nach Drucklegung dermaßen wirklichkeitsfremd liest, hat nur vordergründig mit der großen Wanderung der Muslime in den Jahren 2015/2016 zu tun, die Migration zum entscheidenden gesellschaftlichen Reibebaum in Deutschland und darüber hinaus in vielen Teilen EU-Europas hat werden lassen. Ein „erfreuliches Phänomen“ war sie zu diesem Zeitpunkt nur für eine kleine Minderheit, die Mehrheit betrachtete sie als „Gefahr und Problem“.
Die Fehleinschätzung des Gewerkschafters wurzelt tiefer. Sie ist einem Wahrnehmungsverlust sozialdemokratischer Politik geschuldet, die sich seit der britischen New Labour des Tony Blair und der Agenda 2010 des Gerhard Schröder dem globalistischen Weltbild angedient und mit ihm die Opfer der Globalisierung aus dem Blick verloren hat.
Massenhafte zwischenstaatliche Migration ist Ausdruck sozialer Missstände, und zwar sowohl in den Herkunfts- als auch in den Zielländern. Dieser Befund widerspricht freilich der Grundthese der vier kapitalistischen Grundfreiheiten, nach denen der Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft möglichst ungehindert funktionieren soll – zum Wohle aller, wie von den Apologeten der Globalisierung üblicherweise hinzugefügt wird.
Für viele Unternehmensbranchen bedeutet Migration nichts anderes als die Mobilisierung von Arbeitskräften, die billig zu haben sind. Kapitalvertreter würdigen Migration dementsprechend als positiv, begleitende Medien erfinden dazu eine passende Ideologie und sprechen von „Weltoffenheit“. Manchmal äußern sich auch politische Vertreter diesbezüglich offen und ehrlich, wenn beispielsweise der bayrische Innenminister Günther Beckstein (CSU) im Jahr 2000 meint:
„Wir wollen nicht, dass mehr Menschen in unser Land kommen, sondern wir fordern ein spürbares Umsteuern, damit weniger kommen, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen.“
Wenn allerdings Gewerkschafter Einwanderung als „erfreuliches Phänomen“ wahrnehmen, dann haben sie entweder – wie weiland SPD-Chef Schröder als „Genosse der Bosse“ – die Klassenseite gewechselt oder sich im Dickicht eines Begriffswirrwarrs verirrt, in dem Solidarität zu einem undefinierten Bekenntnis verkommen ist. Denn Solidarität setzt Kollektivität und Gleichheit voraus. Extreme Unterschiede in der Lebens- und Arbeitsweise, insbesondere im Lohnniveau, sind nicht durch Solidarität auszugleichen.
Der Kampf um soziale Konvergenz, also um die Herstellung von Gleichheit – ob das nun EU-weit oder weltweit geschehen soll – muss vor oder noch besser: statt der Mobilisierung der Armen und Auswanderungswilligen geführt werden.
Bei einer Lohndifferenz von 8:1, wie sie 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe beispielsweise zwischen Deutschland und Bulgarien besteht, fällt Solidarität weder bei deutschen noch bei bulgarischen Arbeitern auf fruchtbaren Boden. Und bei unterschiedlichen Lebenswelten wie jenen von afghanischen oder jemenitischen Flüchtlingen auf der einen und mitteleuropäischen Haushalten auf der anderen Seite bleibt jenseits des gegenseitigen Exotismus auch kein Platz für ein solidarisches Miteinander.
Sich dies einzugestehen, darf nicht gleichbedeutend mit einer migrantenfeindlichen Einstellung sein, sollte aber zu einer migrationskritischen Haltung führen. Auf abstrakterer Ebene hat sich diese notwendige Unterscheidung in der Einschätzung des Migranten und der Migration längst durchgesetzt: Die Flucht- und Migrationsursachen sind zu bekämpfen, nicht die Flüchtlinge und Migranten, heißt es zu Recht.
Tatsächlich hat sich die Dreieinigkeit der aus Kapital, meinungsführenden Medien und liberalen Politikkreisen bestehenden Elite darauf verständigt, Einwanderung unter den Aspekt der Verwertbarkeit zu stellen; ganz nach dem Motto:
die Brauchbaren ins Land, die Unbrauchbaren vor die Grenzbalken.
Dies ist der Konsens zwischen einer wirtschaftsliberalen Sicht, die sich gerne auch massenhafte Einwanderung vorstellt, aus der dann die besten ausgesucht werden können, Sozialdemokraten und einer eher kulturliberal geprägten migrationsaffinen Szene.
So sprach sich der damalige SPD-Parteichef und spätere Außenminister Sigmar Gabriel im Mai 2016 für ein neues Einwanderungsgesetz aus, das MigrantInnen in einer für wirtschaftliche Zwecke nutzbringenden Datenbank erfasst. Sein Thüringer Genosse und Landesvorsitzender, Andreas Brausewein, rief das kanadische Modell einer Punktetabelle in Erinnerung, in der jeder potenzielle Immigrant nach Alter, Bildungsstand, Sprachkenntnissen und Berufserfahrung katalogisiert wird, um ähnlich einer Auflistung von Qualitätsmerkmalen bei Versandkatalogen seine (Arbeits-) Marktchancen zu bestimmen.
Die Partei Die Linke steht dem Modell aufgeschlossen gegenüber, ihre thüringische Migrationssprecherin Sabine Berninger äußerte in einem Zeitungsinterview zwar Bedenken gegen „nationale ökonomische Nützlichkeitserwägungen“, war aber zugleich mit einem unverfänglicheren Wording bei der Hand und sprach von einer „aktiven Einwanderungspolitik“, auf die sie sich gemeinsam mit der SPD und den Grünen freue.
Wie eine solche marktkonforme Migration ganz konkret aussehen könnte, dafür haben die österreichischen Grünen bereits zehn Jahre zuvor ein Programm ausgearbeitet. In einem penibel aufgelisteten Punktesystem geht es dabei darum, 65 solcher Punkte zu erreichen, womit der Migrant berechtigt wäre, einen einheimischen Arbeitsplatz einzunehmen. Die langjährige grüne Migrationssprecherin und Abgeordnete zum Nationalrat, Terezija Stoisits, entwarf fünf Kategorien, in denen solche wanderungsbegünstigenden Punkte gesammelt werden könnten: Ausbildung, Alter, Sprachkenntnisse, Arbeitserfahrung und bereits ansässige Verwandte.
Bei der Kategorie Alter waren für 21- bis 35-Jährige 10 Punkte drinnen, während über 46-Jährige nur mit 4 Punkten rechnen durften. Für deutsche und englische Sprachkenntnisse konnten sich Migrationswillige 10 Punkte abholen, andere Sprachen – wie zum Beispiel die Muttersprache der Burgenlandkroatin Stoisits – wurden minder bewertet.
Stoisits war es nicht zu peinlich, noch mehr ins Detail zu gehen. So rechnete sie beispielsweise vor, dass eine Informatikerin aus einem Nicht-EU-Land knapp 65 Punkte erlangen konnte, wenn sie 26 Jahre alt, zwei Jahre Arbeitserfahrung in der Branche, gutes Englisch, aber kein Deutsch sprach und ihr Bruder bereits seit sechs Jahren in Österreich lebte. Das ergab exakt 65 Punkte – und damit die Schengen-Freifahrt mit Arbeitserlaubnis. Für eine 42-jährige Buchhalterin mit einem College-Abschluss, 15 Jahre Berufserfahrung, davon zwei Jahre in Österreich, guten Deutschkenntnissen und keinen Verwandten in Österreich ging es sich leider nicht aus: 60 Punkte – unbrauchbar.
Die grünen Vorschläge fanden sich dann ein wenig abgewandelt in dem Punkterechner der 2011 beschlossenen Rot-Weiß-Rot-Karte wieder, mit der „ein flexibles, neues Zuwanderungssystem eingeführt (wurde), das qualifizierten Arbeitskräften aus Drittstaaten eine auf Dauer ausgerichtete Zuwanderung nach Österreich ermöglicht.“ Die Einführung von Qualitätskriterien für den Import von nützlichen Arbeitskräften ist freilich so scheinheilig wie unrealistisch, sind doch die wanderungsauslösenden Pull- und Push-Faktoren mit dem Drehen einer Stellschraube am komplexen System ungleicher wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse nicht in den Griff zu bekommen.
Die europäischen Zentren erleben seit über einem halben Jahrhundert einen ständigen Zufluss ausländischer Arbeitskräfte, die fast im Jahrzehntetakt wellenmäßig aus unterschiedlichen Regionen des Ostens und Südens einwandern. Von den GastarbeiterInnen der 1960er-Jahre aus Jugoslawien, Portugal, Griechenland, Italien und der Türkei über die postkommunistische Migration aus Polen und der Slowakei sowie die Vertriebenen aus Bosnien und dem Kosovo in den 1990er-Jahren bis zu den Kriegsflüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in den 2010er-Jahren ergießt sich ein permanenter Strom an Menschen aus Krisen- und Billiglohngebieten in die EU-europäischen Zentralräume.
Selbst die geringe historische Distanz zu den Ereignissen lässt bereits den Schluss zu, dass eine Hauptfunktion der Migration in den Zielländern darin besteht, einen ständigen Druck auf die Löhne aufrechtzuerhalten. Oder in der Sprache der Wissenschaft ausgedrückt: „Die Ausländerbeschäftigung konnte mithin (…) die Flexibilität des Kostenfaktors Arbeitskraft extrem steigern“, wie einer der führenden Migrationsforscher, Klaus Bade, meint (1).
Diese „Unterschichtung“ einheimischer durch ausländische Arbeitskräfte rechtfertigte der deutsche Wirtschaftswissenschaftler August Sartorius von Waltershausen bereits im Jahr 1903 durch eine angebliche ökonomische Rationalität. Vor allem Arbeiten in der Landwirtschaft und im Bausektor seien „anstrengend, vielfach die Gesundheit aufreibend, oft schmutzig und widerlich“, urteilt von Waltershausen und nennt die ausländischen Schwer- und Drecksarbeiter „Arbeiterschicht zweiten Grades“, die wie „der Neger in den nordamerikanischen Oststaaten, der Chinese in Kalifornien, der ostindische Kuli in Britisch-Westindien, der Japaner in Hawaii, der Polynesier in Australien“ die von ihnen erwarteten Funktionen erfüllen.
Dass es einer solchen „Arbeiterschicht zweiten Grades“ bedarf, daran ließ der Ökonom auch vor über 100 Jahren keinen Zweifel aufkommen: „Die Tatsache, daß inländische Arbeitslose vorhanden sind, darf keineswegs von vornherein die Einführung von Ausländern in allen Fällen ausschließen“ (2).
Der Zustrom an ausländischen Arbeitskräften garantiert neben dem ständigen Druck auf den Arbeitsmarkt einen Niedriglohnsektor. Billige Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, am Bau, dem Hotel- und Gastgewerbe sowie in vielen anderen Branchen können in erheblichem Ausmaß unter Tarif in Form von nicht registrierter Arbeit – oder auch Schwarzarbeit – ausgebeutet werden. Damit ist es dem Unternehmer auch möglich, Investitionen aufzuschieben, weil die niedrigen Lohnkosten nicht zu einer Modernisierung zwingen. Zudem bilden die eingewanderten ArbeiterInnen, solange sie keine vollen Staatsbürgerrechte haben – was in der Regel mindestens zehn Jahre dauert –, einen konjunkturellen Puffer.
Dies war zum Beispiel während der Wirtschaftskrise 1966 zu beobachten, als beträchtliche Teile der ersten Gastarbeiterwelle aufgrund schlechter gewordener Konjunkturdaten wieder heimgeschickt wurden. Die Herkunftsländer hatten mit dieser unerwarteten Rückkehr sozialpolitisch schwer zu kämpfen.
Die Tatsache, dass ArbeiterInnen in Ländern wie Deutschland und Österreich seit Mitte der 1990er-Jahre trotz stetig steigender Produktivität mit Reallohnverlusten konfrontiert sind, ist unter anderem auch mit dem permanenten Zuzug immer neuer ArbeitsmigrantInnen zu erklären.
Ausgangspunkt dafür ist eine fortschreitende Teilung von Arbeitsmärkten, die in einem zweiten Schritt auch bis dahin geschütztere Beschäftigungsverhältnisse trifft und Löhne drückt. So hat die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung errechnet, dass die Reallöhne in Deutschland zwischen 1992 und 2012 um 1,6 Prozent gesunken sind (3). Die „Arbeitnehmerentgelte“, also inklusive Lohnsteuer und Sozialversicherung, sanken zwischen 2000 und 2008 um 11 Prozent. Das Statistische Bundesamt gab bekannt, dass eine Reallohnerhöhung um 2,6 Prozent im Jahr 2016 dazu beigetragen hat, dass der durchschnittliche preisbereinigte Lohn eines Arbeiters in Deutschland erstmals wieder über das Niveau von 1992 gestiegen ist. Mit anderen Worten: Erst nach 24 Jahren blieb dem deutschen Werktätigen ein klein wenig mehr im Portemonnaie.
Neben dem allgemeinen Lohndruck und Rationalisierungen wie der Digitalisierung von Produktions- und Dienstleistungssektoren trägt ein ständiger Migrationszufluss in den Zentren auch zu einer – wie es im liberalen Diskurs euphemistisch heißt – „strukturellen Arbeitslosigkeit“ bei. In den 1960er-Jahren konnte man bei Arbeitslosenzahlen von unter 2 Prozent in Deutschland (bis 1972) und ebenfalls unter 2 Prozent in Österreich (bis 1980) noch von Vollbeschäftigung sprechen, seither haben wir uns an Prozentzahlen im hohen einstelligen und sogar im zweistelligen Bereich gewöhnt.
Die Weltwirtschaftskrise 2007/2008 verschärfte dann die Situation auf den Arbeitsmärkten sowohl in den zentralen wie in den peripheren Ländern der Europäischen Union. Die Pufferfunktion der ArbeitsmigrantInnen kam hierbei wieder einmal zum Tragen. So zeigt die schwedische Migrationsstatistik deutlich, wie im Jahr 2008 bei polnischer und rumänischer Immigration ein Rückgang festzustellen ist, bei gleichzeitiger Zunahme der Rückwanderungen nach Polen und Rumänien.
Ähnliche Wanderungskurven weisen während der Wirtschaftskrise auch andere Zielländer auf. Arbeitslosenquoten von fast 12 Prozent in Deutschland (2005) ließen die Einwanderung kurzfristig zurückgehen. Die Austeritätspolitik der Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und IWF führte dann in der Folge der 2008er-Krise zu einem ökonomischen Roll-back insbesondere in Griechenland, Italien und Spanien. Die dortige Jugendarbeitslosigkeit explodierte im Jahr 2013 auf über 38 Prozent in Italien und Portugal und auf unfassbare 56 und 59 Prozent in Spanien und Griechenland.
Wenn ein Drittel oder gar die Hälfte der jungen Menschen keine Zukunftschancen hat, muss man von einer in ihrer Heimat unbrauchbar gewordenen Generation sprechen. Folgerichtig steigt bei den Jugendlichen der Wunsch, auszuwandern. Einer Untersuchung des weltweit agierenden Meinungsforschungsinstituts Gallup zufolge wollen 24 Prozent der Griechen, Spanier und Italiener sowie 25 Prozent der Portugiesen migrieren. Nur die Flexibelsten unter ihnen machen sich in die EU-europäischen Zentralräume auf, um dort ihr Glück zu versuchen.
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