Fall Relotius: Journalismus als Schönheitsoperation
Beim Spiegel ist man geschockt über die Entdeckung, dass ein preisgekrönter Reporter in großem Umfang Geschichten manipuliert hat
Der Spiegel hat vor Weihnachten ausgepackt, diesmal in eigener Sache. Ein Betrugsfall im eigenen Haus wurde offengelegt, hieß es gestern Nachmittag. Ein Reporter des Nachrichtenmagazins habe "in großem Umfang eigene Geschichten manipuliert". Im Haus sei man schockiert, Kolleginnen und Kollegen seien tief erschüttert, der Fall Relotius markiere einen Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte des Spiegel.
Der Betrugsfall wurde intern aufgedeckt, heißt es. Man gehe nun mit "Demut" an die Aufarbeitung. Das macht man nun, so weit es geht, transparent und führt vor, dass es sehr viele Fragen gibt, die man an sich stellt.
Anderswo kann man lesen, dass es im Ort des Geschehens der Reportage "In einer kleinen Stadt", die vergangenes Jahr erschienen ist, und die Kleinstadt Fergus Falls in Minnesota abbildete als "typisch für das ländliche Amerika, das Trump zum Präsidenten machte", eine ganze Menge konkreter Fragen und kritischer Anmerkungen von Bewohnern gab.
Es gibt hier so viele Lügen, dass man Freund Jake und ich sie für diesen Artikel auf die 11 absurdesten Lügen einengen mussten.Michele Anderson and Jake Krohn
Man habe die Unwahrheiten schon eine ganze Weile gesammelt, sei aber wegen anderer Tätigkeiten, erst jetzt dazu gekommen, offensichtlich angeregt durch die Enthüllungen, die jetzt im Spiegel veröffentlicht wurden, sie in einem Artikel darzulegen.
Es ist wahrscheinlich, dass da noch einiges Ähnliches mehr von anderen Seiten zu Tage kommt.
Es gibt ein paar Fragen, die sich über die Redaktion des Spiegels und der Wahrheit in Fergus Falls hinaus stellen. Wie kommt es, dass Journalisten-Jurys so viele Preise an Claas Relotius verliehen haben, von dem sich der Autor dieses Beitrags eingestehen muss, dass er ihn bis gestern gar nicht gekannt hat?
Die kruden Potpourris, die wie meisterhafte Reportagen aussahen, machten ihn zu einem der erfolgreichsten Journalisten dieser Jahre. Sie haben Claas Relotius vier Deutsche Reporterpreise eingetragen, den Peter Scholl-Latour-Preis, den Konrad-Duden-, den Kindernothilfe-, den Katholischen und den Coburger Medienpreis. Er wurde zum CNN-"Journalist of the Year" gekürt, er wurde geehrt mit dem Reemtsma Liberty Award, dem European Press Prize, er landete auf der Forbes-Liste der "30 under 30 - Europe: Media" - und man fragt sich, wie er die Elogen der Laudatoren ertragen konnte, ohne vor Scham aus dem Saal zu laufen.Spiegel
Wie selbstreferentiell ist der Betrieb?
Es sieht so aus, dass sich auch die Jurys, die über die Vergabe von den Namen nach ehrwürdigen Preisen entscheiden, sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, der häufig an ein gewisses Lesepublikum gerichtet wird. Dem wird vorgeworfen, dass es sich allzu leicht von Desinformationen blenden lasse, die doch seriös betrachtet zum "kruden Potpourri" aus Verschwörungstheorien oder politischer Propaganda gehören.
Einer der Preise, die der Spiegel-Reporter verliehen bekam, ist nach Peter Scholl-Latour benannt. Dessen Reportagen zeichneten sich dadurch aus, dass das Bild, das Scholl-Latour darin von Wirklichkeiten in anderen Ländern wiedergab, sich oft nicht dem fügten - und er diese Absicht auch überhaupt nicht verfolgte -, was gerade im deutschsprachigen Raum als offizielle Meinung angesagt oder vorgegeben war.
Da Scholl-Latour mehrere Sprachen beherrschte, sich in den Gebieten, über die er berichtete, eingearbeitet hatte, mit den Verhältnissen vertraut war und mit vielen Personen, von Straßenbekanntschaften bis zu politischen Führern, auf eine Weise sprach, die nicht auf Bestätigung vorgegebener Meinungen ausgerichtet war, waren seine Reportagen lesenswert.
Sie fügten dem bekannten Bild Neues oder Widersprüchliches hinzu. Nach der Lektüre war die Welt für die Leser größer geworden, aber nicht unbedingt in einer Weise verständlicher, dass alle Widersprüche aufgehoben waren. Im Gegenteil.
Bestätigen, was man zu kennen glaubt
Anders bei bei Relotius. Wer sich die Mühe macht und die Reportage von Claas Relotius über den "Jungen, mit dem der Syrienkrieg begann" durchliest, erfährt nichts über Syrien, was sie oder er nicht schon längst weiß oder zu wissen glaubt. Und das ganze in einer Sprache, die zeigt, dass Hemingway noch immer ein Hausgott von prämierten "Edelfedern" ist, aber nur dessen Kurze-Sätze-Lack und der Rhythmus, nicht das Schwierige abgeschaut wurde.
Es ist der 2642. Tag des Krieges und die letzten tausend Kämpfer in Daraa, einer der letzten Rebellenhochburgen in Syrien, können sich kaum noch wehren. Mouawiya schickt eine Sprachnachricht, seine Stimme klingt erschöpft: "Hier ist Mouawiya, könnt ihr mich hören? Sie beschießen uns mit Mörsern und Raketen. Wir haben fast keine Munition mehr, aus dem Ausland kommen kaum noch Waffen. Eigentlich sollten die Amerikaner uns beschützen, aber sie haben uns aufgegeben. Wir sitzen in einem Steinbunker. Wir können nur beten."Der Junge, mit dem der Syrienkrieg begann
Der Text operiert nicht nur an dieser Stelle mit bekannten Versatzstücken, die man etwa vomTwitter-Mädchen im Syrienkrieg kennt. Sie entsprechen genau dem, was man von einem vorgezeichneten Syrien-Bild erwartet. Die Reportage mit ihrem Authentizitätsbonus bestätigt lediglich Annahmen, die man sich aus der Ferne macht. Die Welt wird kleiner und biederer. Warum also soll man solche Reportagen überhaupt lesen?
Die Jury des Reporterpreises habe den Text wegen seiner "beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert" gelobt, heißt es in der Spiegel-Nachbetrachtung. Die Quellenlage sei, wie jetzt bekannt wurde, keineswegs klar. Der Text enthalte "klassische Relotius-Fälschungsszenen".
Eine weitere kurze Kostprobe, diesmal der Schluss aus der Reportage Jaegers Grenze vom November dieses Jahres:
Jaeger muss jetzt an Trumps Worte denken. "Fangen und zurückschlagen", sagt er und legt in Ruhe sein Gewehr an. Er weiß nicht, was da unten im Tal ist, ein Tier oder ein Mensch. Vielleicht glaubt er, er müsse das, was Trumps Soldaten nicht tun dürfen, nun selbst tun. Vielleicht will er nicht wahrhaben, dass Trumps Worte die ganze Zeit nur Wahlkampf waren, nur eine Show. Jaeger blinzelt in die Dunkelheit, das Gewehr liegt auf seiner Schulter. Er hat kein Ziel. Er kann nichts sehen. Und irgendwann drückt er ab.Bürgerwehr gegen Flüchtlinge. Jaegers Grenze
"Es ist der eine gefälschte Text zu viel", schreibt der Spiegel dazu. Anscheinend ist gar nicht sicher, ob Jaeger überhaupt existiert außer in der Fiktion. Claas Relotius schrieb über "Leute, die er nicht getroffen oder sogar erfunden hatte, er beschrieb Szenen, die es so nie gab".
Offenbar ist aber in den Jurys und den Redaktionen (nicht nur der Spiegel hat Beiträge von Relotius veröffentlicht) die Lust an solchen Fiktionen und die Freude an solchen Leuten und Szenen größer als an der Schilderung von Wirklichkeiten, die komplizerter und hässlicher sind als das, was man erwartet. Die preisgekrönten Reportagen von Relotius aber funktionieren wie Schönheitsoperationen. Was nicht passt, wird passend gemacht.
"Edelfedern" und Erfolgsdruck
War "Edelfeder" als Begriff in Alltagsgesprächen längst ein Kuriosum geworden, so steht er im journalistischen Edelbetrieb nach wie vor für sehr gute Bezahlung und Preise - und für Druck, den der Betrieb damit produziert. Zwei Mal nach Syrien gefahren und nichts Edles zurückgebracht, dann wird mehr über die Kosten der nächsten Reise nachgedacht und der Glanz verstrahlt sich. Die Betrügereien waren aus dem Erfolgsdruck entstanden, erklärt der nun entarnte Reporter.
Diesem Druck war offensichtlich auch die Prüfer in der Redaktion ausgesetzt. Das zeigt sich daran, dass es lange Widerstand gegen diejenigen gab, die Zweifel an der Authentizität übten. Aber wie wichtig ist dieser betriebsinterne, selbstreferentielle Erfolgsdruck, wenn man mal die Leserschaft in den Blick nimmt? Will die wirklich nur schön mit der Edelfeder ausgemalt bekommen, was schon vorgestanzt ist?
"Die Reportage wird gerne für eine Form der Literatur gehalten. Oft ist sie aber nicht einmal seriöser Journalismus", lautet der Untertitel zu einem Artikel von Claudius Seidl zum Genre. Die Überschrift dazu ist bezeichnend: "Die Verniedlichung der Welt".
Nun wird wahrscheinlich viel dazu geäußert, wie die Prüfungen in den Redaktionen ausschauen, ob der Betrug nicht zu sehen war, wie moralisch verwerflich der Reporter gehandelt hat usw.. Die interessanteren Auseinandersetzungen verlaufen aber dort, wo man sich die Tendenz zur "Verniedlichung" genauer anschaut und die Bereitschaft dazu, sich dem hinzugeben.
Nachtrag: "Wir haben den Journalismus, den wir haben, weil wir es so sollen", schreibt Jörg Thadeusz, der viele Preisverleihungen moderiert hat, aber sich schon im Sommer dazu entschieden hatte, damit aufzuhören. Er spricht von "Gratismut", der gefeiert werde. (Thomas Pany)
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