dinsdag 13 december 2022

Was das neueste Interview über Merkels Politik verrät

 Analyse von Ulrich Reitz Was das neueste Interview über Merkels Politik verrät

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Angela Merkel beim Festakt zum 1100-jährigen Stadtjubiläum von Goslar in der Kaiserpfalz. Goslar, 29.09.2022 *** Angela
IMAGO/Future ImageEx-Kanzlerin Angela Merkel, hier beim Festakt zum Stadtjubiläum von Goslar Ende September, hat der ZEIT ein Interview gegeben

Angela Merkel verteidigt ihre Politik: Gegenüber Russland und der Ukraine, zu den Flüchtlingen. Dabei gibt sie einiges preis über ihr Selbstverständnis. Wir lernen: sie war eine gewiefte Taktikerin. Eine Strategin war sie nicht. 

Kann Kanzlerpolitik plausibel sein und doch falsch? So etwas passiert, wenn ein Regierungschef seine Politik ausrichtet am Machbaren, aber nicht am Erwünschten. Am kurzfristig Erreichbaren, nicht aber am Nachhaltigen. Entlang dieser Linie erklärt Angela Merkelselbst ihre Politik – und offenbart viel über ihren Regierungsstil. 

Im Interview mit der Zeit sagt Merkel einen Satz, den Helmut Kohl wohl nie gesagt hätte – auch, soweit ich mich erinnern kann, nie gesagt hat. Der Krieg in der Ukraine werde „eines Tages mit Verhandlungen zu Ende gehen. Kriege gehen am Verhandlungstisch zu Ende“. Merkel, die oft als Verhandlungskönigin beschrieben worden ist, als Meisterin der Nachtsitzungen – unter anderem von Wladimir Putin– kann es sich offenbar gar nicht anders vorstellen, als dass ein Krieg in einem klimatisierten Zimmer endet und nicht auf dem blutigen Schlachtfeld. 

Man merkt an dieser Stelle: aus ihr spricht die studierte Physikerin, die gelernt hat, mit Versuch und Irrtum, mit Trial and Error, zur Lösung zu kommen. Helmut Kohl, der Historiker war, hat gewusst, dass Kriege nicht am Verhandlungstisch enden müssen. 


Wie Kriege enden - anders als Merkel sich das vorstellt


Der Erste Weltkrieg endete mit einem Diktatfrieden. Der Zweite Weltkrieg endete mit einer Kapitulationserklärung. Für die jeweiligen Alliierten gegen das Deutsche Reich gab es für den Kriegsverlierer nichts mehr zu verhandeln. Der Vietnamkrieg endete mit dem schmählichen Abzug der Amerikaner, die Älteren unter uns haben noch das ikonische Foto vom Dach der amerikanischen Botschaft in Saigon vor Augen, auf dem der letzte US-Hubschrauber abfliegt. 


Der Afghanistan-Krieg endete für die Russen so wie der Vietnam-Krieg für die Amerikaner. Sie zogen ab als geprügelte Hunde. So endete auch der Krieg des Westens gegen die Taliban – die nicht nur die Deutschen, sondern sogar die Amerikaner in die Flucht schlugen. Was zugleich eine andere populäre These widerlegt: 

Man kann einen Krieg selbst gegen eine Atommacht gewinnen. Die Taliban ließen sich weder von den russischen noch von den amerikanischen Atomraketen abschrecken. Sie waren weniger furchtsam als die Deutschen und deren Kanzler, der kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges die russische Atomdrohung sehr ernst nahm. 

Deutschland ist zu einer pazifistischen Gesellschaft geworden

Weshalb ist es so Common sense in Deutschland, auf Verhandlungen zu setzen? Wohl deshalb: Deutschland ist zu einer pazifistischen Gesellschaft geworden, und der Spruch: Wer redet, schießt nicht, gilt als Wahrheit. Der Ukraine-Krieg aber lehrt Anderes: Man kann auch reden und gleichzeitig schießen. Man kann auch nur schießen. Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen den Deutschen und Putins Russen: Putin und seine Clique halten den Westen für dekadent, weil der sich nicht vorstellen kann, auf schießen verzichten zu wollen. 

Walodymyr Selenskij und Wladimir Putin führen gerade vor, weshalb ein Verhandlungsfrieden im Ukraine-Krieg weit weg ist. Beide können schon aus innenpolitischen Zielen gar nicht verhandeln, denn keiner von ihnen hat sein Ziel erreicht. Selenskij nicht die Befreiung, Putin nicht die Auslöschung der Ukraine. Verhandeln jetzt könnte beide aus dem Amt tragen. 

Zurück zu Merkel, die von der Zeit gefragt wird, ob man, „wann und unter welchen Umständen Verhandlungen aufgenommen werden, allein der Ukraine überlassen“ könne. Was Merkel sagt, ist interessant, weil es etwas anderes ist als das, was ihr Nachfolger dazu sagt. Nämlich: 

„Es gibt einen Unterschied zwischen einem Diktatfrieden, den ich wie viele andere nicht will, und freundschaftlich offenem Gespräch miteinander. Mehr will ich dazu nicht sagen.“ Auf dieselbe Frage antwortet Scholz stets dasselbe – darüber entscheide die Ukraine „allein“. Das Fenster, das Merkel mit ihrer Antwort für Diplomatie aufstößt, ist weitaus größer als der diplomatische Spielraum, den Scholz – nach diversen Gesprächen mit Putin – für möglich hält. 

Merkel will sich Vorwurf ihrer Nachfolger nicht gefallen lassen

Merkel muss sich bis heute den Vorwurf gefallen lassen, es sei ein Fehler gewesen, die Ukraine und Georgien nicht schon 2008 in die Nato aufgenommen zu haben, wie die Amerikaner und Britendies wollten. Merkel sagt: Die Ukraine und Georgien seien nicht bereit dazu gewesen (im Sinne von vorbereitet), und das Thema sei nicht zu Ende gedacht gewesen – mit Blick auf die Nato „und ihre Beistandsregeln“. Merkel glaubte ergo damals, ein früher Beitritt der Ukraine hätte zu einem frühen Überfall Putins auf das Land geführt und dann die Nato zu einem direkten Kriegsbeteiligten gemacht.

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