zaterdag 20 juli 2019

Das Propagandamodell & die Volkswirtschaft der Massenmedien

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Das Propagandamodell & die Volkswirtschaft der Massenmedien TEIL 2 - Frage- & Antwort-Runde

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Noam Chomsky: Steht da jemand am Mikrofon? Machen wir es einfach mechanisch. Beginnen wir da drüben, dann da, und dann hier oben. OK? Und dann machen wir es reihum. OK. Weil ich nicht sehen kann...
Fragesteller: Professor Chomsky?
Chomsky: Ja.
Fragesteller: Ich habe Ihren Theorien über politische Systeme und die dahinterstehenden Ideologien mit großem Interesse zugehört. Allerdings finde ich eine Reihe Ihrer Äußerungen in der Vergangenheit sehr bedenklich, darunter vor allem Ihre Behauptung, die Sowjetunion sei in Wirklichkeit ein Kerker. Meines Erachtens kann man so eine Pauschalverurteilung einer ganzen Gesellschaft nur als unangemessen betrachten. Außerdem glaube ich, dass solche Äußerungen sehr destruktiv sein können, weil sie unangebrachte und antiquierte Ideen über den „kommunistischen Feind“ propagieren könnten. Ich habe jetzt drei Jahre auf die Gelegenheit gewartet, auf ihre eben erwähnten Äußerungen zu antworten, und ich frage mich, ob Sie im Licht der Veränderungen seitdem, wie Glasnost und Perestroika, Offenheit und Neustrukturierung, von denen noch nicht feststeht, wie bedeutend sie sind – ob Sie angesichts dessen immer noch Ihre harsche Meinung zu diesem Thema haben.
Chomsky: Zunächst einmal habe ich das nicht auf die Gesellschaft bezogen, sondern auf Staat und die Regierung. Im Privatleben der Leute ist es vielleicht nicht so. Aber ich habe das gesagt, weil ich es für wahr halte. Ich denke, dass die Sowjetunion ein Kerker ist, und außerdem, dass sie nichts mit Kommunismus oder Sozialismus zu tun hat. Was die Veränderungen betrifft, sollten wir hoffen, dass sie bleibend sind. Die Gefängniswärter haben beschlossen, das System etwas laxer zu machen. Aber die Veränderungen kommen von oben. Sie sind gut, jedenfalls besser als nichts. Aber Gorbatschow hat jetzt mehr Macht in der Hand als die meisten vorherigen Führer der Sowjetunion, und er nutzt diese Macht so ähnlich wie Peter der Große, um die Gesellschaft von oben zu liberalisieren, Restriktionen zurückzufahren, sie etwas zu öffnen, und ich denke, das ist gut. Ich
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habe das Gefühl, dass diese Veränderungen schon eine Menge in Gang gesetzt haben; wenn man solche Veränderungen vornimmt, passiert immer viel, Kräfte aus der Bevölkerung beginnen sich zu regen, es gibt alle möglichen Konflikte, interessante Dinge geschehen, und wir werden sehen, wohin das führt. Ich bin, um bei der Metapher zu bleiben, froh, dass die Wärter beschlossen haben, die Zellen ein wenig zu öffnen und etwas mehr Freiheit in der Gesellschaft zuzulassen. Das ist sehr gut und ich hoffe, dass andere Kräfte sie dazu treiben, so weiterzumachen. Wir können darüber streiten, ob diese Beschreibung der Gesellschaft zutrifft. Sie finden das wohl nicht. Ich schon, und wenn Sie möchten, erkläre ich Ihnen, warum. Aber zu Ihrem Punkt: Wenn ich das finde, denke ich, ich sollte es auch sagen. Ich sehe keinen Grund, es nicht zu sagen, wenn ich finde, es stimmt.
Fragesteller: Meine einzige Frage ist, wenn es in den USA auch politische Repression gibt –Chomsky: Sicher.Fragesteller: – macht das dann die USA nicht auch zu einem Kerker?Chomsky: Nein.
Fragesteller: Oh.
Chomsky: Weil die USA ein viel freieres Land sind – ich habe das schon öfter über die USA gesagt und ich sage es wieder: Sie sind in vieler Hinsicht die freieste Gesellschaft der Welt. Natürlich gibt es Repression, aber im Vergleich zu anderen ist es eine sehr freie Gesellschaft. Ich denke, das ist einer der Gründe, warum wir hier ein so ausgefeiltes System der Gedankenkontrolle haben.
In den USA ist die Fähigkeit des Staats, Gewalt auszuüben, ziemlich begrenzt. Aber Sie haben Recht, es gibt eine Menge Repression. Ich habe das FBI erwähnt, das als nationale politische Polizei fungiert und dessen Aufgabe letztlich Repression ist. Das ist die Aufgabe, der es seit seiner Gründung nachgegangen ist. Das ist unvereinbar mit der freien Gesellschaft. Aber dennoch, und denken Sie daran, dass ich hier im Vergleich spreche, sind die USA eine ziemlich freie Gesellschaft. Die Fähigkeit des Staates, Zwang auszuüben, ist wahrscheinlich geringer als in jeder anderen Gesellschaft, die ich kenne. Also denke ich nicht, dass es richtig wäre, die USA als Kerker zu bezeichnen.
Fragesteller: Ich danke Ihnen.Fragesteller: Professor ChomskyChomsky: Ja.
Fragesteller: Wenn Sie direkt vom Podium, wo Sie stehen, zwei Blocks weit gehen würden, kämen Sie zu einem wunderbaren Exemplar von etwas, von dem ich öfters gesagt habe, es sei ein gutes Beispiel für neofaschistische Hochhausbunker- –
Chomsky: Für was?
Fragesteller: – für neofaschistische Hochhausbunker-Architektur. Ich meine die Vilas-Halle; das ist das Kunstgebäude der Hochschule für Kommunikation, für Journalismus. Ich vermute, heute Abend sind etliche Journalismus-Studenten hier im Auditorium, eine Reihe von Leuten, die, wenn sie die Filter passieren, einmal mittlere Apparatschiks für das Medienimperium sein werden, das Sie diskutiert haben. Sie werden dort durchtränkt mit der Ideologie wertfreier, objektiver Berichterstattung. Es ist die große ideologische Offensive gegen die Art von Modell, das Sie sich
als Alternative wünschen. Können Sie ein wenig über die Ideologie der Objektivität und der wertfreien Berichterstattung im Rahmen dieses Systems sprechen?
Chomsky: Ja, es gibt diese Ideologie, und es ist interessant, wie sie interpretiert wird. Objektivität bedeutet, zu nehmen, was die Mächtigen sagen und es akkurat wiederzugeben, ohne ihre Aussagen zu entstellen, und am Ende des Berichts vielleicht so etwas zu sagen wie das, was ich zitiert habe: Wenn man ein wirklich unerschrockener Reporter ist, sagt man dann, nun, irgendwie scheint das unvereinbar mit dem Geist des Friedensabkommens. Das ist objektive Berichterstattung. Wenn das Außenministerium verkündet, Nicaragua habe zu einer Revolution ohne Grenzen aufgerufen, berichtet ein objektiver Reporter das, auch wenn er weiß, dass es gelogen ist. Es stimmt ja, dass die Behauptung aufgestellt wurde. Und es wäre nicht objektiv und würde eine Meinung ins Spiel bringen, es eine Lüge zu nennen.
Es gibt also eine Ideologie der Objektivität, aber ich würde das nicht einfach so abtun. Im Großen und Ganzen würde ich, wenn ich eine Reihe von Reportern aus verschiedenen Ländern hätte, die über etwas schreiben, dem US-Journalisten zumindest genauso viel, vielleicht sogar mehr trauen, als denen, die einen anderen Hintergrund haben, weil man die Sache mit der Objektivität nicht einfach so abtun kann. Die Bemühung, sich an die Fakten zu halten und nicht von Meinungen leiten zu lassen, ist ehrenwert und führt manchmal zu akkuraten Berichten. Und es gibt einige Journalisten, die sehr, sehr gut darin sind und auf viele gute Berichte zurückblicken können. Dazu gehören sogar Journalisten, die für die Medien arbeiten, die in meinen Augen zum inneren Kern des Propagandasystems gehören.
Nehmen wir etwa John Kifner von der New York Times. Ich denke, man kann sehen, wann die Herausgeber ihre eigenen Gründe haben, einen ganz genauen Bericht zu wollen. Dann schicken sie John Kifner, weil er so einen Bericht liefern wird. Wenn sie zu diesem Thema keine zutreffenden Berichte mehr wollen, ziehen sie ihn ab und setzen ihn wieder in die Innenredaktion. Das ist ein guter Test für ihre Absichten. Manchmal wollen sie genaue Berichte, und es gibt da einige Journalisten, die genau das tun.
Wenn sie aber ihren derzeitigen diplomatischen Chefkorrespondenten Thomas Friedman schicken, weiß man, dass sie Propaganda wollen. Sie wollen jemanden, der wie er – unmittelbar nachdem er zu diesem Posten befördert worden war – sagt, die neue US-Administration unter Bush beabsichtige, das Zentralamerikanische Friedensabkommen zu unterstützen, das von Costa Rice, Guatemala, Honduras und El Salvador vorgeschlagen und auf den Weg gebracht worden sei. Keine Erwähnung Nicaraguas, aber so geht das Spiel. Das passiert, wenn man Thomas Friedman über etwas berichten lässt. Und ich schätze, die Herausgeber wissen, was sie da tun. Ich vermute, genau darum ist auch Thomas Friedman diplomatischer Chefkorrespondent und John Kifner nicht. Aber das müssen Sie die New York Times fragen.
Um auf ihren Punkt zurückzukommen: Objektivität, objektive Berichterstattung ist gut, ein guter Wert, und die Leute, die das auf ehrliche Art machen, sind sehr gute Journalisten. Aber wie Sie richtig gesagt haben, kann diese Ideologie als Zerrspiegel genutzt werden, und das ist sehr häufig der Fall.
Fragesteller: Ist George Bushs Hände-weg-Politik nur ein Deckmantel, und die ganzen Aktionen der Exekutive laufen einfach nur geheim? Oder ist das eine Möglichkeit für die Legislative und das amerikanische Volk, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen?
Chomsky: Oh, zunächst einmal: Wieso glauben Sie, dass er so eine Politik betreibt?Fragesteller: So wurde darüber berichtet. Das ist es, was –
Chomsky: Ja, OK. Aber –Fragesteller: – diese Wahrnehmung einer –Chomsky: Ja, aber das ist –Fragesteller: – einer Hände-weg-PolitikChomsky: Das ist keine gute Grundlage.Fragesteller: Ich denke, die Wahrnehmung ist nicht –
Chomsky: In Wirklichkeit war es ja Ronald Reagan, der eine Hände-weg-Politik hatte. Reagan wusste vermutlich gar nicht, welche Politik betrieben wurde. Das ist eine interessante Erscheinung der letzten acht Jahre, die alles andere als witzig ist. Es ist eine schlichte Tatsache: Die Medien haben groß darum herum geheuchelt, aber jeder, der Augen im Kopf hatte, wusste, und der größte Teil der Bevölkerung wusste, dass die USA in den letzten acht Jahren keinen wirklichen Präsidenten hatten. Das ist bemerkenswert. Ich denke, es ist ein Schritt in Richtung der Manipulation von Zustimmung, und vielleicht auch ein Omen für die Zukunft der Demokratie. Ich denke, die USA haben in den letzten acht Jahren einen Sprung in die Zukunft gemacht. Jetzt hat sich der Prozess etwas verlangsamt, aber ich denke, so wird es weitergehen und die anderen industriellen Demokratien werden uns folgen.
Wenn wir erstmal dahin kommen, dass es bei Wahlen nur noch um die Auswahl rein symbolischer Figuren geht, erhält die Marginalisierung der Bevölkerung einen weiteren Schub. Und genau das ist in den letzten acht Jahren passiert. Da stand jemand an der Spitze, der wahrscheinlich die betriebene Politik gar nicht kannte. Seine Rolle war, Erklärungen zu verlesen, die die Reichen für ihn aufgesetzt hatten, genau wie in den 30 bis 40 Jahren davor. Und es schien ihm zu gefallen, er wurde gut bezahlt, alle waren glücklich. Aber Reagan wählen ist, als würde man die Königin von England wählen. Und das ist ein Fortschritt.
Ich meine das nicht ironisch, ich denke wirklich, dass es ein Fortschritt ist, nämlich in der Marginalisierung der Bevölkerung. Teil des Prozesses ist, die bestehenden formalen Beteiligungsmechanismen ihres substantiellen Gehalts zu berauben, damit sie keine Krise der Demokratie auslösen können. Und was könnte da besser sein, als sie auf die Auswahl symbolischer Figuren zu reduzieren. Ich denke, das ist geschehen, und die Medien haben dazu nichts gebracht, obwohl sie genau wussten, was los war.
Aber mit George Bush sind wir meines Erachtens zu einer eher normalen Situation zurückgekehrt. Ich sehe keinerlei Grund zu der Annahme, dass er eine Hände-weg-Politik hat. Und es wird dieselbe Art Rückgriff auf geheime Aktivitäten geben wie früher.
Wann tun Regierungen so etwas? Normalerweise, wenn der Feind im Innern ihr nicht erlaubt, ihre Aktivitäten öffentlich zu betreiben. Dann nehmen sie Zuflucht zu geheimen Aktionen. Geheime Aktionen sind diffizil, komplex und teuer – und sie können immer auffliegen. Es ist viel leichter und effizienter, gewaltsame Aktivitäten ganz offen durchzuführen. Und wenn eine Regierung, besonders unsere, ihre Aktionen im Geheimen betreibt, dann meistens, weil sie Angst vor der Bevölkerung hat.
Für den Rest der Welt sind diese Aktionen kaum ein Geheimnis, und für die Opfer ganz bestimmt nicht. Und auch nicht für die verschiedenen Söldnerstaaten, die wir mit hineingezogen haben, wie
es bei den Iran-Contra-Anhörungen herauskam. Sie waren kein Geheimnis für Nicaragua, sie waren kein Geheimnis für Israel, und auch nicht für Taiwan, Saudi-Arabien oder Brunei – nein, für niemand von ihnen, und auch nicht für die Bande von zwielichtigen Geschäftsleuten, die mitmachten, um daran zu verdienen, wie Richard Secord und Albert Hakim. Und nicht einmal für den Kongress und die Medien. Kongress und Medien wussten von den Contra-Flügen, sprachen aber nicht darüber; sie wussten vom Verkauf von Waffen an den Iran auf dem Weg über Israel, aber es kam nie zur Sprache. Aber es flog auf, nachdem ein Flugzeug mit einem US-Söldner abgeschossen wurde und nachdem die iranische Regierung enthüllte, dass der Nationale Sicherheitsberater der USA sich in Teheran herumtrieb und dort Bibeln und Schokoladenkuchen verteilte. Ab da konnte man es nicht mehr geheim halten. Es kam alles heraus und erneute Pirouetten wurden nötig.
Es war einfach nicht wirklich geheim, und das ist leicht zu dokumentieren. Ich selbst habe die ganze Zeit anhand öffentlich zugänglicher Quellen darüber geschrieben. Entscheidend ist, dass man es vor der Bevölkerung geheim halten kann. Das Ausmaß der Aktionen war gerade so, dass das machbar war und der Feind im Innern nicht allzu böse über sie wurde. Erinnern wir uns, dass es hier um die Kontrolle über feindliches Territorium geht – dazu sind Geheimaktionen da. Wenn die Regierung Aktivitäten – gewaltsame, terroristische, subversive oder sonstige Aktionen – durchziehen will, die das eigene Volk, der Feind im Innern, nicht dulden würde, greift sie auf Geheimaktionen zurück. Das ist deren Zweck, und es gibt keinen Grund, wieso die Bush-Administration in dieser Hinsicht anders sein sollte. Vielleicht wird sie sogar schlimmer sein – denken wir nur an Bushs Vergangenheit.
Fragestellerin: Dr. Chomsky, Sie haben kürzlich in einem Interview zur feministischen Bewegung gesagt, diese habe verglichen mit anderen die größten Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben und unsere kulturellen Muster gehabt. Wenn Sie richtig zitiert wurden, sagten sie, sie habe bleibenden Einfluss auf praktisch alles gehabt. Wieso hat die Linke dann nicht nur Probleme, mit ihr zusammenzuarbeiten, sondern duldet auch in einem meines Erachtens inakzeptablem Maß antifeministische Personen und Perspektiven in ihrer Mitte? Das ist eine Frage, und die zweite Frage –
Chomsky: Könnten Sie da ein bisschen spezifischer werden? Ich meine –
Fragestellerin: Na ja, ich weiß nicht; das ist schwierig, ich würde das lieber nicht.
Chomsky: OK.
Fragestellerin: Und die andere Frage an Sie wäre: Sie sind doch ein Linguist von Weltrang, und ich frage mich, auf welche Art das mit ihrer politischen Arbeit zu tun hat.
Chomsky: Nun, was das Thema Feminismus betrifft, war Ihr Kontext wohl eine Antwort von mir auf die Frage, was aus den Bewegungen der 1960er Jahre geworden sei. Zu dieser Frage gibt es eine propagandistische Antwort. Diese Version besagt, die Bewegungen der 1960er hätten noch diesen ganzen Idealismus und all das gehabt, und das sei nun verblasst. Danach hatten alle nur noch ihr Eigeninteresse im Sinn, und alles Vorige verschwand. Und ich denke, das ist Unsinn. Ich denke, dass es Propaganda ist und in Wirklichkeit der Versuch, die Leute dazu zu bringen, aufzugeben.
Aber wenn man das Ganze objektiver sieht, scheint es zumindest mir so zu sein, dass die Bewegungen der 60er Jahre sich in den 1970ern und sogar in den 1980ern verbreitert haben undgewachsen sind, und dass sie jetzt weitere Teile der Gesellschaft erreichen als je zuvor. Gruppen wie die, die den heutigen Vortrag organisiert hat, hätte es damals gar nicht gegeben, und bestimmt wäre vor zwanzig Jahren sowieso niemand gekommen. Aber jetzt gibt es das im ganzen Land und
nicht nur an Universitäten, sondern in Kleinstädten und Kirchengemeinden. Die Bewegungen haben sich verbreitert. Deshalb musste die Reagan-Administration ja auf geheime Aktionen zurückgreifen. Das feindliche Territorium war außer Kontrolle.
Der Grund, warum ich die feministische Bewegung erwähnte, war gerade, dass sie ein Produkt der70er Jahre ist. Und wie Sie richtig gesagt haben, glaube ich tatsächlich, dass sie vergleichsweise den größten Einfluss auf kulturelle Muster und Beziehungen sowie Autoritätsstrukturen und ähnliches gehabt hat, und das fand in den 1970er und 1980er Jahren statt.
Aber zurück zu ihrem Punkt mit der Linken. Ein Großteil der heutigen feministischen Bewegung kommt aus der Linken und war eine Reaktion auf den Sexismus in der Linken. Das war Ende der 1960er ein großes Thema und eine sehr emotionale und komplizierte Angelegenheit. Das war eine der Wurzeln der modernen feministischen Bewegung, die natürlich eine viel längere Geschichte hat. Und es ist möglich, dass die Linke immer noch Sexismus und sexistische Personen duldet – ganz sicher tut sie das. Soweit das stimmt, muss man etwas dagegen tun. Nicht nur in der Linken, sondern überall. Ich glaube nicht, dass das in besonderem Maß ein Problem der Linken ist.
Fragestellerin: Mein Name ist Nancy, und ich bin Mitglied in der International Socialist Organization. Erst einmal möchte ich sagen, und ich bin sicher, dass viele, viele Leute hier mir zustimmen, dass ich ihrer Arbeit sehr viel verdanke. Sie hat uns allen entscheidend geholfen, den ganzen Müll zu durchschauen, der uns jeden Tag begegnet, wenn wir versuchen zu verstehen, was in der Welt geschieht. Aber ich denke –
Chomsky: Jetzt kommt das „aber“.
Fragestellerin: Aber ich denke, wenn ich hier weitermachen darf, dass es in ihren Werken und ihrer Analyse, wie sie sie heute Abend präsentiert haben, auch ein Problem gibt, nämlich, dass wir vor lauter Bäumen vielleicht den Wald nicht mehr sehen können. Sie bringen so viele erstaunliche Einzelheiten, was verkehrt am System ist und was verkehrt an den Medien ist, dass wir vielleicht die eigentliche Schlüsselfrage aus den Augen verlieren, nämlich, warum diese Kontrolle überhaupt nötig ist. Und ich würde sagen – ich habe hier 90 Sekunden, und ich schwöre, dass ich nicht länger brauche – dass das daran liegt, dass hier antagonistische Interessen im Spiel sind. Im 17. Jahrhundert sprachen sie ja gerade deshalb von Milchmädchen und alten Jungfern und Taglöhnern, weil das die damalige Arbeiterklasse war. Und was wir heute in den USA sehen ist, klar gesagt, eine herrschende Klasse, die die Arbeiterklasse zu kontrollieren versucht. Darum geht es hier, die Macht über sie zu behalten.
Wenn das stimmt, scheint mir die Frage zu sein, wie wir uns organisieren, um das System zu verändern und den Kapitalismus zu stürzen. Und ich finde, dass Sie hier ihren Zuhörern und denen, die Ihr Werk schätzen, einen schlechten Dienst leisten, wenn sie Lenin auf die krasse Art wie heute Abend mit dem Stalinismus gleichsetzen. Das ist eine Prämisse, die gar nicht hinterfragt wird, aber, wie wir vorhin gesehen haben, billigen Applaus einbringt und außerdem von den Mainstreammedien geteilt wird. Wenn es wirklich so einfach wäre, wenn das alles sowieso dasselbe ist, wären die schrecklichen Maßnahmen, die selbst bürgerliche Historiker als Konterrevolution unter Stalin bezeichnen, doch gar nicht nötig gewesen.
Ich denke, dass die Lage, die Sie heute Abend aufgezeigt haben, extrem ernst ist und dass es wichtig ist, dass wir sie alle ernst nehmen. Wir reden hier buchstäblich vom Schicksal von Millionen Menschen auf der Welt, besonders in der von Ihnen beschriebenen internationalen Arena. Deswegen meine ich, dass wir eine umfassende, ernsthafte und faire Diskussion verschiedener Alternativen brauchen und nicht nur über die Schrecken des Kapitalismus reden sollten, sondern auch darüber, wie wir ihn ein für alle Mal abschaffen können.
Chomsky: Sie haben hier eine Reihe verschiedener Fragen aufgeworfen. Eine davon betrifft die Einschätzung der USA, und meines Erachtens habe ich dazu, mit Ausnahme der Rhetorik, nichts anderes gesagt als Sie. Die Rhetorik halte ich ehrlich gesagt nicht für besonders hilfreich – weder für eine Analyse noch für ein besseres Verständnis oder was auch immer. Aber unser Bild ist dasselbe. John Jay sagte es unverblümt: Die Leute, denen das Land gehört, sollte es regieren – und diese Leute bilden heute ein Netz von Konzernen, Konglomeraten und Banken. Sie sind der Meinung, sie sollten das Land regieren, und sie tun es mit den Methoden, die wir hier beschrieben haben.
Was die Sowjetunion betrifft, war sie ja heute gar nicht mein Thema. Aber ich habe darüber geschrieben, und da habe ich nicht nur harsche Kritik geübt, sondern begründet, warum ich sie für richtig halte. Und es stört mich nicht, wenn ich hier mit den Mainstreammedien übereinstimme. Und erinnern wir uns an Trotzki – er wurde in den 30er Jahren beschuldigt, seine Verurteilung der Sowjetunion mit den Faschisten zu teilen. Und er meinte, er werde seine nicht Kritik mildern, nur weil jemand anders aus andern Gründen dasselbe sagte.
Ihre Frage dreht sich um die Sowjetunion und besonders um Lenin. Was ist Leninismus?
Halten wir uns an die Fakten. Wenn wir das tun, finden wir meines Erachtens Folgendes: Lenin vertrat eine rechte Abweichung von der sozialistischen Bewegung und wurde genauso gesehen, und zwar von Marxisten, sehr angesehenen Marxisten. Wir haben vergessen, wer die angesehenen Marxisten waren, weil sie besiegt wurden und man sich nur an die Gewinner erinnert. Aber wenn man sich die damalige Zeit ansieht, waren die Marxisten des Mainstream Leute wie Anton Pannekoek, der Leiter des internationalen Bildungsprogramms der marxistischen Bewegung war. Er gehörte zu der Strömung, die Lenin später als linke Kinderkrankheit abtat. Aber er war einer der führenden Intellektuellen der marxistischen Bewegung. Eine andere, und bei weitem nicht die einzige, Figur war Rosa Luxemburg. Sie alle übten genau wie Trotzki bis 1917 scharfe Kritik am Leninismus, den sie als opportunistischen Vorhutkult betrachteten. Es ging um die Idee, dass radikale Intellektuelle die Volksbewegungen zur Ergreifung der Staatsmacht ausnutzen und dann diese Macht verwenden sollten, um die Bevölkerung in die von ihnen festgelegte Gesellschaftsform hinein zu prügeln.
Das war kaum vereinbar mit dem Marxismus, wie ihn viele von denen verstanden, die ich als Linksmarxisten bezeichnen würde. Von ihrem Standpunkt aus war der Bolschewismus eine Rechtsabweichung. Und bis 1917 sah Trotzki das genauso.
Als Lenin im April 1917 nach Russland zurückkam, nahm er eine scharfe Änderung an seiner vorherigen Linie vor. Ein Blick auf Lenins Werk zeigt, dass es im April 1917 seinen Charakter änderte: Es wurde regelrecht libertär. Damals verkündete er seine April-Thesen und schrieb das Buch Staat und Revolution. Es kam erst 1918 heraus, wurde aber 1917 geschrieben, und die April- Thesen und dieses Buch waren im Wesentlichen libertäre Werke. Sie entsprachen viel mehr dem Mainstream des linken, libertären Sozialismus, dessen Bandbreite vom Anarchismus bis zum Linksmarxismus der Pannekoek-Luxemburg-Variante reicht. Und er sprach über Sowjets und die Notwendigkeit der Organisierung der Arbeiter usw. und berührte damit tatsächlich das, was von jeher als Essenz des Sozialismus verstanden wurde, dessen ideologischer Kern ja immer die Arbeiterkontrolle über die Produktion gewesen war. Das war der Kern, der Anfang, von dem aus man weitermacht. Aber der Anfang ist die Kontrolle der Arbeiter über die Produktion – dort beginnt alles.
Dann übernahm Lenin im Oktober 1917 die Macht. Das wurde Revolution genannt, aber meines Erachtens war es ein Putsch. Und auf diesen Putsch, oder wenn man will, diese Revolution, folgten
einige wichtige Dinge.
Als erstes wurden sofort Schritte zur Zerstörung der Sowjets und der Fabrikräte unternommen. Das gehörte zu den ersten Schritten Lenins und des inzwischen mit ihm verbündeten Trotzki, nachdem sie die Staatsmacht übernommen hatten.
Wenn man sich ansieht, was Lenin danach schrieb oder tat, findet man eine Rückkehr zu seinen ursprünglichen Positionen. Sein Schwenk nach links war eine Ausnahme. Was war der Grund? Meines Erachtens war es Opportunismus. Er wusste, dass er, um an die Macht zu kommen, mit den neuen Volksbewegungen mitschwimmen musste, die wie die meisten Volksbewegungen seit dem 17. Jahrhundert spontan, libertär und von der Tendenz sozialistisch waren. Und als der fähige Politiker, der er war, schwamm er auf der Welle mit und sagte den Leuten, was sie hören wollten. Es war so, wie wenn ein US-Politiker irgendwohin geht, und seine Umfrageleute sagen ihm, sag das und das, und er sagt es. Das heißt nicht, dass er es glaubt. Und ich denke, dass Lenin dasselbe tat, nur ohne Meinungsumfragen.
Wie dem auch sei, als er die Macht übernahm, kehrte er zu seiner früheren Vorhutpolitik zurück und machte sich sofort an die Beseitigung der Organe der Arbeiterkontrolle. Aber wenn Arbeiterkontrolle über die Produktion der Kern des Sozialismus ist, zerstörte der damit ja den Sozialismus. Die Sowjets und die Fabrikräte waren Organe der Arbeiterkontrolle. Sie waren zweifellos mangelhaft und verbesserungsbedürftig, aber sie waren die Instrumente, die in den Kämpfen der Bevölkerung selbst entwickelt worden waren, um die Arbeiterkontrolle durchzusetzen. Und sie wurden als allererstes beseitigt.
Anfang 1918, immer noch vor Beginn des Bürgerkriegs, erläuterte Lenin seine Auffassung sehr klar. Lenin und Trotzki bezogen beide die Position, was man jetzt brauche, sei etwas, was Trotzki eine „Arbeitsarmee“ nannte und der Kontrolle eines einzigen Führers untersteht. Lenin sagte, Modernität, Fortschritt, Entwicklung und Sozialismus erforderten, dass die Masse der Bevölkerung sich als disziplinierte Arbeitskraft einem einzigen Führer unterordnet.
Das hat absolut nichts mit Sozialismus zu tun. Tatsächlich ist es das genaue Gegenteil, und wurde deswegen von Leuten wie Rosa Luxemburg, Pannekoek und Hermann Gorter und anderen Vertretern des Linksmarxismus kritisiert, wenn auch im Geiste weiterbestehender Solidarität, da die revolutionären Kräfte immer noch am Werk waren. Und ich meine, dass sie Recht hatten. Von da an nahm dann alles seinen Lauf. Lenin stellte die zaristischen Unterdrückungsorgane wieder her, und oft mit größerer Effizienz – man denke an Tscheka, KGB und andere Techniken von Kontrolle und Repression. Ich denke, von da ab gab es in der Sowjetunion nichts mehr, was auch nur entfernt mit Sozialismus zu tun hatte. Meiner Ansicht nach war das ein Vorläufer späterer Formen von Totalitarismus.
Ich denke, das ist es, was passiert ist, und ich denke, das ist es, was man sehen wird, wenn man sich die Fakten betrachtet. Aber nennen es alle Sozialismus?
Das ist eine komplizierte Geschichte, die wir uns näher ansehen sollten. Die Sowjetunion nennt das Sozialismus. Und bald darauf nutzten die Führer der Sowjetunion den Nimbus, sie hätten so etwas wie Sozialismus geschaffen, auch, um die Kontrolle über einen Großteil der internationalen sozialistischen Bewegung zu übernehmen.
Lenin blieb übrigens alldem zum Trotz in vieler Hinsicht orthodoxer Marxist. Und als solcher glaubte er selbst nicht an die Möglichkeit des Sozialismus in der Sowjetunion. Bis zu seinem Tod, bis kurz vor seinem Tod, solange er noch klar denken und schreiben konnte, blieb er bei der Auffassung, dass die Funktion der sowjetischen Revolution lediglich darin bestand, die Stellung zu
halten. Sie sollte die Stellung halten, bis in Deutschland die echte Revolution stattfinden würde, denn laut marxistischer Doktrin musste die Revolution in den fortgeschrittensten Ländern des modernen Industriekapitalismus stattfinden, aus all den Gründen, die Marx dafür gab. Die Sowjetunion gehörte offensichtlich nicht zu diesen Ländern, und darum konnte es dort gar keinen Sozialismus geben; sie konnte nur irgendwie für diesen die Stellung halten. Mit Letzterem rechtfertigten die Führer dann die Beseitigung der sozialistischen Institutionen. Mich überzeugt das nicht, aber sie selbst sahen es wohl so. Insofern stand Lenins Auffassung in Einklang mit der gängigen marxistischen Tradition.
Und hieß es dann doch, die Sowjetunion sei sozialistisch. Warum sagten die kommunistischen Parteien das? Vermutlich, weil sie das damals sehr reale moralische Prestige des Sozialismus nutzen wollten. Es fällt heute schwer, das zu glauben, aber damals war dieses Prestige sehr real. Er wurde als progressive, moralische Kraft betrachtet, und indem die Kommunisten ihre Zerstörung des Sozialismus mit dessen Aura umgaben, hofften sie, bei der Arbeiterklasse und in anderen progressiven Schichten Punkte zu machen.
Aber auch der Westen sagte nun, genau dies sei Sozialismus – aber aus dem entgegengesetzten Grund. Er strebte eine Gleichsetzung des Sozialismus mit der Brutalität des russischen Staats an, der den Sozialismus zerstört hatte. So behaupteten die beiden größten Propagandasysteme der Welt aus jeweils eigenen Gründen, dies sei Sozialismus, diese Zerstörung des Sozialismus sei der Sozialismus selbst. Und wenn diese Systeme sich einmal einig sind, ist es sehr schwer, ihrer Kontrolle zu entrinnen. Die Gründe für diese Einigkeit sind verschieden, aber die Einigkeit selbst wurde in der Folge zum unwidersprochenen Dogma.
Ich denke, wir sollten uns fragen, ob all das stimmt, uns die Geschichte betrachten und prüfen, ob die – von Trotzki unterstützen – Schritte Lenins, die sie beide verfochten, etwas mit dem Sozialismus zu tun hatten, wie er in der marxistischen oder linkslibertären Tradition verstanden wurde. Und ich denke, dann wird man finden, dass das nicht der Fall war, sondern dass hier gerade eine Zerstörung der sozialistischen Institutionen vor sich ging.
Was ich gesagt habe, mag richtig oder falsch sein, aber wenn es richtig ist, und ich denke, die Beweise sprechen stark dafür, dann sehe ich keinen Grund, warum man es nicht auch sagen sollte. Und ich glaube bestimmt nicht, wir sollten uns dadurch davon abhalten lassen, dass andere Kräfte, Faschisten oder wer auch immer, die Sowjetunion ebenfalls verurteilen. Die Gründe für diese Haltung hat Trotzki selbst schon in den 1930ern gegeben.
Fragesteller: Um auf den Wald zurückzukommen, den man vor lauter Bäumen nicht sieht, können wir jetzt den zweiten Teil der Geschichte von der Einstampfung des Buchs hören?
Chomsky: Wie bitte?Fragesteller: Teil zwei der Einstampfung des Buchs. Sie haben gesagt, in der Frage- & Antwort-
Runde könnten wir darüber sprechen, und sie hätten noch mehr –Chomsky: Oh, was nach der Einstampfung des Buchs kam? Meinen Sie das?Fragesteller: Ja.
Chomsky: OK. Nun, das ist ein bisschen subtiler und komplexer, und deshalb habe ich es weggelassen, aber hier ist die Geschichte. Herman und ich beschlossen später, das Buch zu überarbeiten und zu aktualisieren. Es wurde 1979 von South End Press, einem kleinen, von ein paar jungen Leuten betriebenen, radikalen Kollektiv-Verlag in zwei Bänden mit dem Titel Die politische
Ökonomie der Menschenrechte veröffentlicht. South End war natürlich nicht bereit, es einzustampfen, also gibt es das Buch und man kann es sogar kaufen.
Was geschah dann? Man kann das Buch nicht mehr einstampfen lassen, wie reagiert man also? Da gibt es immer zwei Möglichkeiten. Die wichtigste ist, es zu ignorieren. Wie Sie selbst nachlesen können, besprechen wir in diesem Buch viele Themen, aber unter anderem diskutieren wir auch die US-Außenpolitik und die Medien. Das waren die beiden Hauptthemen. Und wir lieferten umfangreiche Fallstudien zu beiden Themen. Wie zu erwarten, wurde das Buch weitgehend ignoriert – aber nicht ganz. Es gab dabei eine sehr interessante Ausnahme. Der Hintergrund dazu beleuchtet einige der subtileren Arten, wie das System funktioniert.
Einer unserer Tests in dem Buch für das Propagandamodell – wir nannten es damals nicht so, aber es war dasselbe – war der systematische Vergleich ähnlicher historischer Ereignisse, so wie ich es heute im Bereich der Pressefreiheit getan habe. Die Zeitgeschichte liefert natürlich keine exakten, kontrollierten Experimente, aber es gibt genügend Fälle, die ähnlich genug sind, um an ihnen zu testen, wie die Medien mit ihnen umgehen.
Wir versuchten solche Fälle zu finden, besonders solche, wo es um Gräuel ging. Wir teilten die Gräueltaten in drei verschiedene Kategorien auf: konstruktive Blutbäder – solche, die der Macht der USA und der US-Konzerne nützen und daher konstruktiv sind; gutartige Blutbäder – solche, die den USA mehr oder weniger gleichgültig sind und daher als unwichtig betrachtet werden, und bösartige Blutbäder, das heißt solche, die von offiziellen Feinden verübt werden. So hatten wir diese drei Typen von gutartigen, konstruktiven und bösartigen Blutbädern. Und wir führten von allen drei eine ganze Reihe von Beispielen an.
Unsere Vorhersage war, dass die Medien die konstruktiven Blutbäder begrüßen, die gutartigen Blutbäder ignorieren und die bösartigen Blutbäder empört verurteilen würden, und außerdem, dass sie im Fall der bösartigen Blutbäder alle möglichen Fantasien verbreiten würden, um sie noch schlimmer aussehen zu lassen, als sie es tatsächlich waren. Das war unsere Vorhersage. Und wir gaben eine Reihe von Fallbeispielen, mit denen wir zu zeigen versuchten und meines Erachtens tatsächlich gezeigt haben, dass die Vorhersagen richtig waren.
Unser Modell macht noch eine weitere Vorhersage, die wir nicht erwähnten, die aber implizit enthalten ist und die Reaktion betrifft, die das von uns vorgelegte Material auslösen wird. Da war die natürliche Vorhersage, dass unsere Diskussion konstruktiver Blutbäder ignoriert werden würde, weil unsere Demonstration, dass die Medien enorme Blutbäder enthusiastisch begrüßt haben, den Interessen der Machthaber oder der Medien nicht sehr dienlich wäre und die Heuchelei ihrer angeblichen Empörung über die bösartigen Blutbäder bloßstellen würde. Es war also zu erwarten, dass die Diskussion konstruktiver Blutbäder ignoriert würde.
Was die Diskussion gutartiger Blutbäder betrifft, könnte man eine gelegentliche Erwähnung erwarten, weil die Tatsache, dass die Medien die gutartigen Blutbäder ignoriert hatten, noch nicht gar zu schrecklich ist – zumindest haben sie sie nicht begrüßt. Und solange man die Rolle der USA bei diesen Blutbädern nicht erwähnen muss, ist das Ganze nicht wirklich schlimm und ein paar Kommentare hier und da schaden nicht.
Bei den bösartigen Blutbädern dagegen ist die Erwartung geifernde Wut darüber, dass die Erfindungen der Medien über Blutbäder des Feinds als Fälschungen entlarvt wurden. Das ist ein wichtiger Punkt, der genutzt werden kann, und zwar zur Verleumdung der Kritiker. Wenn diese Kritiker aufzeigen, dass Lügen über die Verbrechen unserer Feinde verbreitet werden, kann man das leicht in eine Verteidigung dieser Verbrechen umdeuten. Alles klar?
Und was passierte?
Nehmen wir zwei Fälle, die sehr ähnlich waren und die wir diskutierten, nämlich den Massenmord in Osttimor von 1975 bis 1979 und den Massenmord in Kambodscha in genau denselben Jahren. Wir stellten einen Vergleich beider Fälle an.
Den einen, in Osttimor, bezeichneten wir als gutartiges Blutbad – den USA war recht egal, was dort geschah. Hunderttausende von Menschen wurden getötet, aber das war nicht weiter interessant. Der Fall Kambodschas war natürlich ein bösartiges Blutbad. Denn da waren ja die Bösen die Täter. Und wir gaben eine sehr detaillierte Beschreibung des verfügbaren Materials in beiden Fällen: dieselbe Region, derselbe Zeitrahmen, vergleichbares Beweismaterial, das Ausmaß des Mordens offenbar vergleichbar groß. In Osttimor war es viel größer in Bezug auf die Gesamtbevölkerung, aber absolut gesehen war das Maß wohl vergleichbar. Der Unterschied war, dass die Massenmorde in Kambodscha von unserem Feind Pol Pot begangen wurden, in Osttimor aber von einem befreundeten Staat, Indonesien. Noch dazu benutzte Indonesien dafür US-Waffen, die von der Carter-Administration geliefert wurden, Waffenlieferungen, die ungeachtet der wachsenden Gräuel immer umfangreicher wurden.
Wie gingen die Medien damit um? Wir haben das in unserem Buch sehr detailliert behandelt. Die Reaktion auf das Timor-Massaker war Schweigen. Ob Sie es glauben oder nicht, 1974 oder 1975 wurde im Kontext des Zusammenbruchs des portugiesischen Reichs viel über Osttimor berichtet. Aber als Indonesien Osttimor überfiel und, mit Unterstützung der USA, mit dem Massaker begann, wurden die Berichte weniger, und auf dem Höhepunkt 1978, wo es, mit wachsender US- Unterstützung, wirklich zum Völkermord wurde, gab es gar keine Berichte mehr – null, nichts. So gingen die Medien mit dem Massaker in Osttimor um.
Und das Massaker in Kambodscha? Nur wenige Wochen nach der Machtübernahme der Roten Khmer wurden diese von der New York Times bereits des Völkermords bezichtigt. Etwa ein Jahr später wurden sie des Auto-Genozids und des Mordes an 2 Millionen Menschen beschuldigt, womit sie angeblich sogar geprahlt hatten. Das wurde dann zur Standardversion. Es gab einen regelrechten Aufschrei, der von Reader’s Digest und TV Guide bis zur New York Review of Books reichte und dem sich praktisch die gesamte Presse dazwischen anschloss – einen Aufschrei der Empörung über die kommunistischen Ungeheuer, die für dieses grässliche Blutbad verantwortlich waren.
Bei alldem gab es eine enorme Menge von Erfindungen, von schlichter Erfindung von Material. Hier ein Beispiel, nämlich die angebliche Prahlerei der Roten Khmer, sie hätten zwei Millionen Menschen getötet. Das ist die allseits bekannte Geschichte – wenn man Leute fragt, wie viele Menschen Pol Pot bis 1977 töten ließ, sagen sie 2 Millionen. Und hier ist die Quelle.
Damals gab es das Buch eines französischen Priesters namens Francois Ponchaud, der vor Machtantritt der Roten Khmer in Kambodscha gelebt hatte und das Land kannte. Es erschien in Frankreich und damals gab es noch keine englische Ausgabe. Es wurde in Frankreich von dem französischen Journalisten Jean Lacouture besprochen. Diese Besprechung wurde dann sofort von den US-Medien rezipiert und erschien übersetzt in der New York Review of Books. Das dürfte die schnellste je erschienene Übersetzung der Rezension eines französischen Buchs sein. Darin schrieb Lacouture Ponchaud die Aussage zu, die Roten Khmer hätten sich mit der Ermordung von 2 Millionen Menschen, Auto-Genozid und anderen Verbrechen gebrüstet. Zum Beleg für die erschreckenden Äußerungen der Roten Khmer zitierte er ausgiebig aus dem Buch. Der Rest der Medien stürzte sich sofort darauf, das Thema war allgegenwärtig, Zeitungsartikel, oh mein Gott, was machen sie da, und so weiter und so fort.
Das machte mich damals neugierig, weil ich für all das keine Originalbelege hatte – ich wollte
einfach wissen, was los war. Da das Buch hier nicht zu bekommen war, bat ich Freunde in Frankreich, es mir zu schicken. Das taten sie, und dann war ich vermutlich der einzige Mensch in den USA, der es gelesen hatte, obwohl es auf Basis der Rezension überall zitiert wurde. Ich fand schnell heraus, dass die Besprechung purer Schwindel war. Was immer in Kambodscha los war – das Buch enthielt nicht das was Lacouture behauptete. Es sagte nichts über Prahlereien über zwei Millionen Morde. Die „Zitate“ der Rezension gab es im Buch gar nicht, oder es war so dass man mit einiger Fantasie eine ähnliche, wenn auch stark verzerrte Entsprechung darin entdecken konnte. Einige Zitate stammten nicht einmal von den Roten Khmer, sondern aus Quellen in Thailand, und so weiter. Aber sämtliche faktischen Behauptungen der Besprechung waren total falsch.
Hier ist die Quelle für die Zahl 2 Millionen. Ponchaud sagt in seinem Buch, im US-Krieg von 1970- 1975 seien etwa 800.000 Menschen getötet worden, vor allem durch das US-Bombardement und den US-Krieg in dieser Zeit. Dann sagte er, der US-Botschaft in Bangkok zufolge seien seit Kriegsende 1,2 Millionen Menschen gestorben (nicht getötet worden). Und in seiner Besprechung zählte Lacouture diese beiden Zahlen einfach zusammen, bezeichnete sie als die Zahl der Tötungen durch die Roten Khmer und fügte dann des Effekts wegen noch die Prahlerei hinzu. So kam diese Zahl zustande.
Nachdem ich das Buch gelesen hatte, schrieb ich Lacouture, den ich kannte, einen Brief, in dem ich sagte: Ich weiß nicht, wie es in Kambodscha aussieht, aber zwischen der Besprechung und dem Buch besteht keinerlei Zusammenhang, und das sollte richtiggestellt werden, da die Rezension überall zitiert wird. Und tatsächlich brachte die New York Review of Books dann eine Richtigstellung. Ja, sagte Lacouture dort, er habe einige Fehler gemacht, und ja, vielleicht seien nicht 2 Millionen, sondern nur einige Tausend getötet worden. Ein kleiner Unterschied, ein Faktor von etwa Eintausend. Aber er meinte, es mache keinen Unterschied, da es so oder so schrecklich sei. Seine Korrekturen wurden ignoriert, und die Medien wiederholten weiter die von ihm erfundene Zahl von 2 Millionen Opfern, obwohl Ponchaud fast die Hälfte davon auf den US-Krieg zurückgeführt hatte.
Das ist nur ein Beispiel, aber es ist typisch. Wenn Sie unser Kapitel darüber lesen, werden Sie einem erschütternden Ausmaß an purer Erfindung begegnen. Das hat nichts mit den Tatsachen zu tun: Natürlich gab es ein Massaker. Tatsächlich wiesen wir ja darauf hin, dass das enorme Massaker in Osttimor wahrscheinlich vergleichbar mit dem Massaker in Kambodscha war. Wir wiesen auch auf die interessante Tatsache hin, dass die US-Presse von den verfügbaren Quellen eine systematisch unter den Tisch fallen ließ. Und das waren die Informationen der Geheimdienste des US-Außenministeriums.
Die „Kambodscha-Beobachter“ der US-Auslandsgeheimdienste waren damals die einzigen, die brauchbare Hinweise auf die Vorgänge in Kambodscha hatten. Und sie schienen gute Informationen zu haben – angeblich aus Funksprüchen und allem möglichem anderen – und berichteten etwas völlig anderes. Sie sagten, dort gebe es wohl Blutbäder, aber sie sprachen von Zehn- oder Hunderttausenden. Auch handle es sich nicht um Massengenozid, sondern vor allem um harte Bedingungen, Brutalitäten und so weiter. Das war die Position der einzigen Leute, die überhaupt etwas wussten. Und sie wurde systematisch weggelassen, weil sie das falsche Bild lieferte. Es war nicht blutig genug für die Zwecke der Propaganda.
Wir sahen uns all diese Daten an – das Schweigen über das Massaker in Timor, die Riesenlügen über die Massaker in Kambodscha – und nahmen es als Beispiel für vergleichbare Massaker und ihre Behandlung in den Medien. Und dieser Teil des Buchs wurde nicht total ignoriert. Zu dem, was wir über konstruktive Blutbäder sagten, kein Wort. Auch über das, was wir zu Osttimor sagten, fast nichts – und wenn es erwähnt wurde, ließ man die Rolle der USA weg. Aber unsere Kommentare zu Kambodscha lösten erneut heftige Wut aus. Man sagte, wir verteidigten Pol Pot. Wir verteidigten
ihn, indem wir sagten, er sei für ein Blutbad verantwortlich, das mit dem US-unterstützten Blutbad Indonesiens in Timor vergleichbar war, und indem wir darauf hinwiesen, dass die US- Nachrichtendienste, die einzige Quelle mit authentischen Informationen, genau dieses Bild gezeichnet hatten, und indem wir über die Verzerrung dieser Informationen durch das Propagandasystem sprachen.
Aber Fakten spielten keine Rolle. Wir hatten es gewagt, das Recht auf Lüge im Dienst des Staats in Frage zu stellen, und dieses Recht muss unbedingt verteidigt werden. Daher ist die allenthalben verbreitete Standardsicht, wir – beziehungsweise ich, denn aus irgendeinem unerfindlichen Grund ist fast immer von mir die Rede – also wir hätten Pol Pot verteidigt und seien Apologeten Pol Pots. Wer sich das Buch selbst ansieht, merkt, dass wir von einem großen Massaker sprachen, aber auch sagten, vieles sei ungewiss. Wir zählten einfach die bekannten Fakten auf und verglichen sie mit den Erfindungen der Medien.
Und das ist verboten. Es ist nicht erlaubt, die Erfindungen der Medien bloßzustellen. Und der Grund, warum dieser eine Teil des Buchs diskutiert wurde, während der Teil über Osttimor praktisch immer wegfällt, ist, dass er für weitere Lügen benutzt werden kann, um Kritiker zu verleumden und mundtot zu machen. Das ist der Grund dafür.
Das ist die subtilere Variante des Propagandasystems.
Dabei ist ein Teil der aufgestellten Behauptungen fast amüsant. Wenn Sie diese Art Literatur lesen, kennen Sie sie schon. William Shawcross schrieb kurz darauf ein Buch namens The Quality of Mercy, das überall in der Presse sehr gut besprochen wurde und große Begeisterung auslöste. Darin behauptet er, die Reaktion auf die Gräueltaten Pol Pots sei großes Schweigen gewesen, und dann fragt er, wie konnte das geschehen? Der Untertitel lautet Holocaust und modernes Gewissen.
Zunächst einmal, stießen die Gräuel Pol Pots tatsächlich auf Schweigen? Nein, sie lösten große Empörung aus, und das schon kurz nach Machtergreifung der Roten Khmer. Sie hatten wahrscheinlich gerade einige Tausend Menschen getötet, als sie bereits des Völkermords bezichtigt wurden. Innerhalb eines Jahres war praktisch überall von TV Guide und Reader’s Digest bis zurNew York Review von Völkermord die Rede, und so ging es weiter. Ein Chor der Empörung, außerdem tonnenweise Erfindungen. Aber es ist eben nützlich und zweckdienlich zu behaupten, alle Welt hätte dazu geschwiegen. Warum? Wenn man behauptet, es wäre so gewesen, kann man profunde Fragen zum Schweigen des Westen zu diesem Massaker stellen, und das heißt, dass wir künftig noch härter daran arbeiten müssen, die Verbrechen unserer Feinde zu enthüllen, um für unser Schweigen zu Pol Pot Sühne zu tun.
Shawcross würde sofort überall zitiert, und sämtliche Zeitungen sagten, oh Gott, wir haben geschwiegen, wie konnten wir das nur tun? Und dann gibt Shawcross eine Erklärung für dieses Schweigen. Sehen Sie sich sein Buch an. Er erklärt das Schweigen, zuerst in der Washington Postund dann in seinem Buch; dort sagt er, der Grund für das Schweigen, der Hauptgrund dafür sei die Skepsis der Linken gewesen, vor allem meine Skepsis.
Ich habe also durch meine Skepsis sämtliche westlichen Medien und Regierungen zum Schweigen gebracht. Ich bin offenbar ziemlich mächtig! Erinnern wir uns, worin diese Skepsis bestand; es war Skepsis gegenüber dokumentierten Lügen. Und dann zitiert er in einer Fußnote eine angebliche Aussage von mir, aber ohne Datum und Quelle. Dafür gibt es zwei gute Gründe. Zum einen ist das Zitat weitgehend erfunden. Zum andern ist die Quelle, soweit davon die Rede sein kann, Hermans und mein Buch, das nach dem Sturz Pol Pots in Druck ging und fast ein ganzes Jahr danach herauskam.
Er behauptet also, wir hätten mit einem Buch, das erst nach dem Sturz Pol Pots in Druck ging und fast ein Jahr danach herauskam, retrospektiv sämtliche westliche Medien und Regierungen vier Jahre lang erfolgreich zum Schweigen gebracht. Wir waren nicht nur mächtig genug, den gesamten Westen derart einzuschüchtern, dass er schwieg, sondern verfügten dabei auch über magische Kräfte.
Und das wurde überall im Gestus großer Bewunderung zitiert. Keine Absurdität ist zu extrem, um nicht voller Respekt zitiert zu werden, solange sie nützlich ist. Das ist sie hier aus mehreren Gründen: erstens für den Schutz des Rechts auf Lüge im Dienst des Staats, zweitens für die Verleumdung von Kritikern, auf die man keine Antwort weiß, und drittens für die Vorspiegelung, wir seien nicht sorgfältig genug gewesen und hätten zu den Gräueln geschwiegen.
Dabei gab es tatsächlich massive Gräuel, zu denen der Westen geschwiegen hat. Wir haben einen Fall dokumentiert: Osttimor. Und der Westen schwieg, weil die Täter Teil des Westens waren; das erklärt das Schweigen. Das wäre die wirkliche Frage zum Thema Holocaust und modernes Gewissen, aber sie wird von niemand diskutiert.
Das alles sind Beispiele für subtilere und komplexere Formen der Gedankenkontrolle. Das war das Nachspiel, von dem ich eingangs sprach – es ist eine interessante Geschichte. Herman und ich geben in unserem Buch Manufacturing Consent einen Überblick
Wer kommt als nächstes? Ich habe den Überblick verloren.Fragestellerin: Hallo.Chomsky: Bitte.
Fragestellerin: Ich bin Liz Chilsen und ich bin Direktorin des Koordinationsrats Nicaragua in Wisconsin. Die meisten Leute hier wissen vermutlich, dass Wisconsin und Nicaragua seit 25 Jahren Partnerstaaten sind. Unser Koordinationsrat hat eine führende Rolle bei der Entwicklung einer zunächst nur symbolischen Beziehung zu einer vitalen Plattform des Friedens gespielt. Wir haben gerade ein Buch mit dem Titel Freunde in Taten: Die Geschichte der Städtepartnerschaften zwischen den USA und Nicaragua veröffentlicht, das über die mehr als hundert solchen Partnerschaften berichtet, die seit der Revolution entstanden sind.
Meine Frage hat mit dieser Bewegung zu tun; ich wüsste gern, was Sie dazu meinen. Ich fürchte, dass der breite Widerstand gegen den Krieg in Nicaragua jetzt für die großen Medien kein Thema mehr ist, sondern ein Nicht-Thema, und diese fehlende Berichterstattung hat sich auf Bewegungen für soziale Veränderungen sehr negativ ausgewirkt.
Chomsky: Ja.
Fragestellerin: Und die Städtepartnerschaften sind eine Art, das Thema wachzuhalten.
Chomsky: Ja, da haben Sie ganz Recht. Die Berichterstattung über Nicaragua ist insgesamt stark zurückgegangen. Ich vermute, das kommt wie üblich von oben. So hat die New York Times zum Beispiel ihren Bürochef Stephen Kinzer abgezogen. Und die Zahl der Berichte ist ganz schnell zurückgegangen. Ich denke, das hat mit der US-Politik zu tun.
Nach Reagan gab einen Wechsel in der Politik. Hier muss man ein wenig weiter zurückblicken. Es gibt schon seit 1980, wie früher zu Vietnam, eine Debatte über Nicaragua, und das Thema war immer, wie können wir das Land erwürgen und kaputtmachen. Die Falken sind dabei für Terror und
Gewalt. Die Tauben sind mehr für die so genannten „sanfteren“ Methoden, wie wirtschaftliche Strangulierung, die Beibehaltung einer kleinen Terrorarmee, die an der Grenze aktiv gehalten wird, damit das Land nicht demobilisieren und seine Ressourcen in den Wiederaufbau stecken kann. Das ist der sanfte Weg.
Und 1986 sprachen sich in Umfragen etwa achtzig Prozent der so genannten Führungskräfte in den USA – das heißt, die Elite, Manager, leitende Angestellte, Politiker usw. – gegen die Contras aus. Sie fanden die von der Reagan-Administration verfolgte Terror-Option schlicht dumm, dumm aus einer Reihe von Gründen. Zum einen löste sie Proteste an der Heimatfront aus. Offene Gewaltanwendung hat den Nachteil, dass sie bei den ungebildeten Massen Protest auslöst, da sie die Ermordung von Kindern, die Vergewaltigung von Frauen, die Enthauptung von Menschen nicht gutheißen. Leider gibt es diese uneinsichtigen Leute, die solche Dinge nicht gut finden. Wenn die USA also ihre Terrorarmee anweist, so genannte „weiche Ziele“ anzugreifen, wie es die US- gesponserten Terroristen zur Zeit Reagans in aller Offenheit und gar nicht geheim taten, provoziert man damit Unruhe hier bei uns selbst. Es löst zu viele Proteste aus, deshalb ist es dumm.
Außerdem leidet das internationale Image der USA darunter. Die USA verstoßen damit offen gegen den Beschluss des Weltgerichtshofs, und das stört unsere internationalen Beziehungen. Und letztlich bringt es auch gar nichts. Es gibt viel bessere Arten, ein winziges Land zu drosseln und kaputt zu machen, ein Land, das aus vielerlei historischen Gründen für sein Überleben auf die Beziehungen zu den USA angewiesen ist. Das muss man klüger und weniger auffällig machen. Das war schon 1986 die vorherrschende Position unter den Führungskräften.
Die Position der Reagan-Administration ist natürlich Teil des US-Meinungsspektrums, repräsentiert aber doch eine extreme Position in diesem Spektrum. Die Leute um Reagan waren große Anhänger von Terror und Gewalt als Selbstzweck. Sie waren wie jemand, der Folter als Selbstzweck und nicht als Mittel und Werkzeug zur Erreichung eines Ziels betrachtet. Und das ist ja eigentlich kontraproduktiv, und vernünftige Leute sehen das anders – man setzt Folter ein, wenn man sie braucht und nicht als Selbstzweck. Folter, das Zufügen von Schmerz, Terror usw. als Selbstzweck bringen nichts. Die Schlüsse der Kritiker dieser Position basieren auf Vernunftgründen: All das ist unnütz, schlecht, führt zu Protesten und so weiter. Also ist die Politik, der sich die Bush- Administration jetzt zuwendet, die rationalere Variante.
Sie wird – zumindest vermute ich das – die wirtschaftliche Strangulierung beibehalten, die im Übrigen ebenfalls illegal ist. Ich habe ja schon gesagt, dass der Weltgerichtshof die Angriffe der Contras verurteilt hat, aber er bezeichnete auch die wirtschaftliche Kriegführung als illegalen Verstoß gegen geltendes Recht. Auch das wird nie berichtet, aber es stand im Beschluss des Gerichts. Daher war das Embargo gesetzwidrig und ein krimineller Akt, und der Weltgerichtshof forderte seine Beendigung. Aber da klar war, dass die Medien nicht darüber berichten würden, konnten die USA mit der Wirtschaftsblockade und den Contras weitermachen. Interessant dabei ist, dass die USA trotz ihres enormen Aufwands an Mitteln zur Aufrechterhaltung einer Söldnerarmee innerhalb Nicaraguas am Ende scheiterten. Das ist bemerkenswert. Keine Guerillabewegung hat je auch nur einen Bruchteil der materiellen Unterstützung gehabt wie die Contras. Es war schlicht unvorstellbar. Sie wurden dreimal täglich aus der Luft versorgt, nur um sie am Leben zu halten. Sie hatten bessere Waffen als die sandinistische Armee, ja, sogar als viele Einheiten der US-Armee. Sie hatten modernste Kommunikationstechnologie mit der sie sich die durch US-Überwachungsflüge gewonnenen Informationen zunutze machen konnten, und das ganze Land ist ständig unter solcher Hightech-Luftüberwachung. So bekamen sie Informationen über die Positionen der sandinistischen Armee, so dass sie ungestört wehrlose Ziele angreifen und nach den Anweisungen des US- Außenministeriums Terror ausüben konnten. Das alles war kein Geheimnis. Keine Guerillaarmee der Geschichte hätte von solcher Unterstützung auch nur träumen können. Aber trotz all dem konnten die USA die Contras nicht im Feld halten. Sowie die US-Unterstützung anfing zu bröckeln,
begannen die Contras über die Grenze zu fliehen.
Der Kontrast zu El Salvador ist unglaublich. In El Salvador gab es eine heimische Guerilla, die soweit bekannt keinerlei Unterstützung von außerhalb hatte. Sie erbeutete ihre Waffen von der Armee des Landes oder kaufte sie auf dem internationalen Markt. Daher haben sie US- amerikanische Waffen, sie haben M-16.
Übrigens bekommen die Guerillas in El Salvador jetzt offenbar erstmals Hilfe von nicaraguanischen Kräften, und so kann Eliot Abrams, der das immer behauptet hat, am Ende glücklich sein. Was ist geschehen? Nachdem die Contras über die Grenze geflohen waren, weil sie ahnten, dass ihr Spiel aus war, begannen sie ihre Waffen an korrupte honduranische Armeebeamte zu verkaufen, die sie an die salvadorianischen Guerillas weiterverkauften. So kamen diese Guerillas erstmals zu sowjetischen Waffen, AK-47 usw., und zwar deshalb, weil die CIA die Contras mit diesen Waffen ausgerüstet hatte. Zuerst hatten die Guerillas nur M-16, also die US-Waffen, die sie von der Armee erbeuteten. Nun wurden ihnen indirekt auch sowjetische Waffen „geschickt“. Zuerst schickte die CIA sie den Contras, und die verkauften sie an die Honduraner. Die verkauften sie dann den Guerillas. Über diese Kette gibt es am Ende doch nicaraguanische Hilfe für die Guerillas, wie ja immer behauptet worden war.
Und noch eine Randbemerkung. Die Information dazu kommt aus guter Quelle, so gut, dass die Medien sie total zensiert haben. Sie kommt vom Geheimdienstchef der Contras, der in Honduras desertierte, nach Mexiko ging und dort der mexikanischen Presse etliche Interviews gab. Er heißt Horacio Arce. Wie die meisten Contras hatte er einen nom de guerre, ein Pseudonym, und sein Pseudonym war Mercenario – Söldner. Diese Leute fackeln nicht herum, sie wissen genau, wer sie sind. Er war der Chef des Contra-Nachrichtendienstes.
Er bekam den Posten 1985 anstelle eines Mannes namens Ricardo Lau, der zur Belastung geworden war, weil es immer klarere Beweise dafür gab, dass er in Terroraktionen in ganz Zentralamerika verwickelt war, darunter vermutlich der Mord an Erzbischof Romero. Der Chef des salvadorianischen Geheimdiensts (der ebenfalls desertierte) behauptete jedenfalls, eine Beteiligung Laus an dem Mord. So wurde Lau lästig und verschwand von der Bildfläche; vermutlich wurde er getötet. Nun brauchten sie einen neuen Geheimdienstchef, und das war Mercenario.
Das war 1985 und letzten November desertierte er. Er ist bis jetzt der hochrangigste Deserteur, viel wichtiger als die ganzen Deserteure aus Nicaragua, die mit allen möglichen erfundenen Geschichten in die USA kommen. Aber er wurde ignoriert. Seine Geschichte war unwillkommen; zum Beispiel berichtete er, wie die Contras widerrechtlich im US-Luftwaffenstützpunkt Elgin in Florida beraten und ausgebildet wurden. Er selbst wurde, ebenfalls widerrechtlich, in die USA geflogen und von Green Berets und der 82. Luftlandedivision ausgebildet. Er nannte die Namen von Leuten in der US-Botschaft in Honduras, die sich als Entwicklungshelfer ausgaben, aber in Wirklichkeit für die CIA arbeiteten und die Contras mit taktischer Hilfe und Unterstützung versorgten. Er nannte ihre Namen. Er beschrieb, wie die honduranische Arme über Aufklärung und Beteiligung an Kämpfen direkt in die militärischen Aktivitäten der Contras in Nicaragua verwickelt ist. Er erklärte anhand vieler Einzelheiten, dass die Aufgabe der Contras im Angriff auf wehrlose Ziele bestand, um soziale Reformen in Nicaragua zu verhindern. Er gab all diese Berichte, die die Medien unnütz finden, und er beschrieb auch, was ich gerade skizziert habe, nämlich wie die Contras, jetzt nach ihrer Flucht über die Grenze ihre Waffen verkaufen und wie diese dann bei den Guerillas landen.
All das sind eigentlich wertvolle und wichtige Nachrichten aus einer ausgezeichneten Quelle – so wichtig, dass sich in der US-Presse meines Wissens kein einziges Wort darüber findet. Sie können selbst nachsehen. Nun, das war eine kleine Abschweifung.
Um auf das Hauptthema zurückzukommen: Die Guerilla in El Salvador hatte soweit bekannt keine Unterstützung von außen. Sie sind ein einheimisches Phänomen. Und sie stehen der den theoretischen Daten zufolge mächtigsten Armee der Region gegenüber, die zumindest auf dem Papier viel mächtiger ist als die Nicaraguas – aber sie sind dennoch nicht auszurotten. Bei den Contras dagegen finden sich alle Arten von Söldnern aus Nicaragua und Honduras, honduranische Bauern, die mit für sie gigantischen Summen wie 500 Dollar, dem Mehrfachen eines Jahreseinkommens, angeworben werden, und die Contras erhielten gewaltige Unterstützung und enorme Mengen von Militärgerät – aber dennoch können die USA sie nicht in Nicaragua halten. Ich denke, mit diesem Maß an äußerer Unterstützung könnte man selbst in den USA eine Guerilla aufbauen – das meine ich ernst. Mit dem Maß an Unterstützung und Militärhilfe, das den Contras zuteilwurde, könnte man wahrscheinlich im amerikanischen Herzland eine Guerilla unterhalten. Aber den USA gelang das in Nicaragua nicht.
Dieser Vergleich legt einen offenkundigen Schluss nahe, so offenkundig, dass niemand in den Medien ihn je ziehen wird, weil es der falsche Schluss ist. Sie können ihn selbst ziehen, also werde ich das hier nicht tun.
Nochmals zu den Plänen der Bush-Administration. Ich schätze, sie wird eine kleine Terrorarmee im Innern Nicaragua sponsern; das wird ihr aufgrund der schieren Macht der USA sicher gelingen. Also wird sie es tun, und das ist einer der Gründe, warum ich glaube, dass die Berichte über illegale von El Salvador ausgehende Contra-Flüge wohl stimmen, abgesehen davon, dass die betreffenden Quellen früher ebenfalls richtig lagen. Wahrscheinlich wird die Bush-Administration Söldnern und Terroristen innerhalb Nicaraguas weiterhin etwas Unterstützung geben, die gerade so bemessen ist, dass die Presse sich wie bisher nicht zu Berichten genötigt sieht. Das ist wichtig, weil Nicaragua dann nicht demobilisieren kann. Und es ist wichtig, das Land zur Mobilisierung zu zwingen, denn ein Land, eine Gesellschaft unter Mobilisierung ist repressiv – so wie die USA während des Zweiten Weltkriegs, als sie stark totalitäre Züge aufwiesen. Und diese Repression kann man dann für Propaganda nutzen. Dann können die Leute von der Nieman-Stiftung sich über Repression aufregen, wie ich es beschrieben habe. Also versucht man sicherzustellen, dass der Feind repressiv ist und die Mobilisierung bleibt – um dafür zu sorgen, dass er nach dem enormen Schaden, den wir angerichtet haben, seine winzigen Ressourcen nicht für den Wiederaufbau verwenden kann.
Zum zweiten werden die USA, sicherlich unter Mithilfe des Kongresses und der Medien, eine Contra-Truppe an der Grenze zu Honduras finanzieren. Darum geht es ja bei diesem ganzen Unfug über „humanitäre“ Hilfe. Sie wollen, unter Missachtung aller Abkommen, eine solche Truppe an der Grenze, weil sie Nicaragua weiter bedrohen wollen. Solange es eine militärische Bedrohung gibt, ist sicher, dass das Land nicht demobilisieren wird. OK? Und das ist wichtig, weil wir wollen, dass die Bevölkerung leidet. Aber das ist dann noch nicht offener Terror. Und außerdem werden die USA – und hier sind wir wieder beim „Hände-weg“ – den Wirtschaftskrieg fortsetzen und weiter Druck auf die internationalen Kreditagenturen und die Verbündeten ausüben, damit sie Nicaragua keine Hilfe geben.
Zu alldem kam dann auch noch der Hurrikan hinzu. Er war ein vernichtender Schlag. Schäden in Höhe von einer Milliarde Dollar. Die USA geben Nicaragua natürlich keinen Cent, sondern sind sogar froh, schadenfroh. Die Verbünden der USA in Kanada und Westeuropa geben ein paar Almosen, eigentlich auch so gut wie nichts. Zum Teil, weil der Große Bruder Druck auf sie ausübt, zum Teil, weil sie viel kolonisierter sind, als sie glauben. Sie wollen gern glauben, sie seien völlig unabhängig, frei in ihrem Denken und so weiter. Dabei glauben die meisten europäischen Intellektuellen jeden Unfug, den sie in der US-Presse lesen. Das Ausmaß der kulturellen Kolonisierung ist enorm, obwohl sie selbst es nicht merken. Auch sie sind sehr besorgt über die sandinistische „Repression“, während die Repression in El Salvador und Guatemala, die tausendmal schlimmer ist, sie überhaupt nicht kümmert. Ihre Regierungen unterstützen diese Länder auch
weiter. Soviel dazu.
Die US-Regierung geht davon aus, dass die Kombination all dessen eine Erholung Nicaraguas verhindern wird. Genau darum geht es. Um die Verhinderung dessen, was Tomas Borge als Revolution ohne Grenzen bezeichnete – des Aufbaus einer funktionierenden Gesellschaft, denn wenn das gelingt, ahmen andere es nach und die US-Herrschaft über die Region geht den Bach hinunter. Und diese Seuche kann sich überall ausbreiten, wo Leute ähnliche Probleme haben und beschließen, ihre Ressourcen für eigene Zwecke zu verwenden. Das wäre schlimm, also darf das Beispiel Nicaraguas nicht funktionieren. Und die USA haben die Mittel, dafür zu sorgen, auch diesseits der absurden Politik Reagans, aus schierer Freude daran Leid und Terror zu verbreiten.
Das sind dann die freundlicheren, sanfteren Methoden.
Ein Teil davon ist, die Berichterstattung zurückzufahren, das ist die Rolle der Medien darin. Nicht mehr zu berichten, so dass die Leute es vergessen und nichts mehr mitbekommen. Ziel ist, die Opposition in den USA ruhigzustellen. Es soll nicht mehr berichtet werden, damit die Bevölkerung wieder gleichgültig und gehorsam ist. Sie haben also völlig Recht mit Ihrem Punkt. Die Rolle der Medien in diesem System ist jetzt genau das, nämlich Schweigen über die Ereignisse. Ich vermute, die Zahl der Berichte wird weiter abnehmen.
Bei sorgfältiger Suche wird man weiter Berichte finden, zum Beispiel über angebliche sandinistische Repression. Und falls es eine große Hungersnot gibt, was wegen des Hurrikans leicht passieren kann, wird darüber berichtet werden, und die Not wird auf Inkompetenz oder Mis- Management der Sandinisten zurückgeführt werden. Über so etwas wird berichtet.
Hier etwas anderes, worüber berichtet werden wird. Der nächste große, schon verkündete Schritt der Contras ist, dass sie zehn Millionen Dollar für die Gründung eines unabhängigen Fernsehsenders in Nicaragua verlangen. Wenn Nicaragua einen solchen angeblich unabhängigen Sender zulassen würde, könnte es den USA auch sagen, übernehmt unser Fernsehen doch gleich ganz. Im diesem Sektor kann ein kleines Land den USA nicht das Wasser reichen; das ist schlicht unmöglich. Wenn Nicaragua weiter dasselbe tut wie die meisten Länder und das Fernsehen in Staatshand behält, kann man das natürlich wieder als totalitär denunzieren. Das tun wir im Fall Israels zwar nicht, obwohl es dort nur Staatsfernsehen gibt, aber das ist nur der übliche Doppelstandard.
Also verlangen wir jetzt von Nicaragua, eine letztlich US-betriebene Fernsehstation zu genehmigen, mit einem Anfangskapital von 10 Millionen Dollar, was für die Verhältnisse dort eine unfassbare und absurde Summe ist. Dabei dominieren die USA schon jetzt in einem Großteil des Landes die Medien. In diesen Regionen gibt es ausschließlich über extrem starke Sender in Honduras und Costa Rica ausgestrahltes US-amerikanisches Radio und sogar Fernsehen. Wenn die USA mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen mitten in Managua einen Fernsehsender installieren könnten, wäre dieser die Propagandaagentur für ganz Nicaragua. Das ist die nächste Forderung, und die Medien werden wieder ganz aus dem Häuschen sein. Es wird der Lackmus-Test für Freiheit sein: das Land ist nur frei, wenn es zulässt, dass die USA das gesamte Kommunikationssystem betreiben, andernfalls ist es totalitär. Das ist das Nächste, was wir hören werden. So wird die Berichterstattung aussehen, aber über die Realität werden wir nichts erfahren. Sie wird zurückgehen, damit die Bewegung in den USA zurückgeht und die Leute zu der Passivität und dem Gehorsam zurückkehren, die ihnen geziemt. Also denke ich, Sie haben Recht mit Ihrem Punkt. Aber wie üblich ist die Frage, ob die Bevölkerung hier sie damit davonkommen lässt. Das sind die Pläne der Elite, aber wir sind nicht gezwungen, sie damit durchkommen zu lassen.
Fragesteller: Bravo, Professor Chomsky, Sie leisten sehr gute Arbeit. Es geht um die UNO. Ich
beziehe meine Informationen nicht von der New York Times, AMC oder NBC, sondern wenn ich etwas wissen will, gehe ich zu den Fachabteilungen der UNO. Nirgendwo wusste man, dass die Weltbevölkerung bei 5 Milliarden angelangt war, aber bei der UNO wusste man es, es gibt Informationen über Radioaktivität in der Luft, wir haben sehr viele Informationen. So auch über den Cäsiumgehalt in Milchprodukten in einer Zeitspanne von 2 Jahren in dicht bevölkerten Regionen wie Boston und New York. Die UNO hatte diese Information. Bürgerinitiativen bedrängten die Medien, Informationen darüber zu veröffentlichen. Sie hatten sie nicht. Aber wir bei der UNO konnten sie bekommen.
Wir schrieben also einen Vorschlag an die UN-Vollversammlung, weil wir der Meinung waren, dass wir als Eltern ein Recht auf wichtige Daten zu Nahrung, Wasser und Luft haben, und die UNO verfügt über diese Informationen. Der Vorschlag forderte einen interaktiven globalen Informationsdienst. Wir legten ihn 1987 aus Anlass der der wichtigen internationalen Konferenz über die Beziehung zwischen Abrüstung und Entwicklung der Vollversammlung vor. Er bekam breite Unterstützung. Ein Jahr später unterbreiteten wir den Vorschlag erneut. Diesmal hatten wir die Unterstützung der Regierungen Schwedens, Australiens und Costa Ricas. Aber es gab auch extrem heftige Opposition dagegen, was soweit ging, dass man zwei Botschaftern drohte, sie würden ihren Posten verlieren, wenn sie einen solchen globalen Informationsdienst irgendwie unterstützen würden.
Im September tritt die UNO wieder zusammen, und wir werden den Vorschlag wieder vorlegen. Wir waren schockiert über die Opposition dagegen, weil er doch letztlich sehr gemäßigt ist. Wir verlangten nur lebenswichtige Informationen und stießen dann auf diesen wütenden Widerstand. Wir werden den Vorschlag also im September wieder vorlegen. Haben Sie eine Idee, welche Strategie wir anwenden könnten?
Chomsky: War das eine Frage oder ein Statement? Es war keine Frage, also müsste ich jetzt eigentlich nicht antworten, aber ich möchte trotzdem eine Antwort auf die Nicht-Frage geben. Demnächst erscheint wieder ein Buch von mir. Ich mag Formulierungen wie „manipulierte Zustimmung“ und „notwendige Illusionen; sie sind zu treffend, um sie einfach vorbeischwimmen zu lassen. So geht der Titel des Buchs auf Reinhold Niebuhrs „Notwendige Illusionen“ zurück, und ich diskutiere darin unter anderem die Berichterstattung über die UNO, und die ist sehr interessant.
Es ist nicht so, dass nichts berichtete wird. Wann immer die UNO eine Resolution gegen die russische Invasion Afghanistans verabschiedet, ist das eine große Story. Wenn sie die USA für die Verletzung internationalen Rechts verurteilt, ist es keine Story. Eine genaue Analyse der Berichte ist sehr interessant. Diejenigen von Ihnen, die schon heute Nachmittag da waren, haben gehört, wie ich ein Beispiel zum Terrorismus gab, einem sehr wichtigen Thema. Aber nehmen wir einen anderen Fall, der illustriert, wovon ich gerade spreche.
Die von Ihnen erwähnte UNO-Sitzung von 1987 verabschiedete eine Reihe von Abrüstungsresolutionen. Sie waren sehr interessant, weil sie zur selben Zeit kamen, als Ronald Reagan auf den Titelseiten der US-Medien als Friedensheld gefeiert wurde. Das war die Zeit des Gipfels von Washington im Dezember 1987, Reagan, der Friedensheld, große Aufregung allenthalben. Praktisch zur selben Zeit beschloss die UNO eine Serie von Abrüstungsresolutionen. Hier sind die Themen: Eine Resolution gegen die Militarisierung des Weltraums, 154 zu 1 Stimmen, ohne Enthaltungen. So ein Stimmenverhältnis hat man in der UNO sonst nie. Sie ahnen wohl, woher die Gegenstimme kam. Dann eine Resolution gegen die Entwicklung neuer Massenvernichtungswaffen, da war das Verhältnis, glaube ich, 132 zu 2. Die USA gewannen die Stimme Frankreichs hinzu. Eine Resolution für ein umfassendes Atomtestverbot, das übrigens von etwa 75 % der US-Bevölkerung unterstützt wird; hier war das Verhältnis 140 zu 3; Frankreich und England stimmten mit den USA. Das waren die Resolutionen.
Über sie wurde nicht berichtet, weil sie nicht zur Idee passten, dass die USA und Ronald Reagan Standartenträger des Friedens sind. Aber über andere Abstimmungen wurde sehr wohl berichtet, wie zum Beispiel die Resolution, die die russische Invasion Afghanistans verurteilte. Ein großer Bericht. Es gab eine Zeit, in der es viele Berichte über die UNO gab, aber die ist vorbei. Im Lauf der Jahre sind die Berichte stark zurückgegangen.
In den 40er und Anfang der 1950er Jahre war die UNO der große Liebling. Es wurde enorm viel berichtet; die UN waren wunderbar, einfach großartig. Und der Grund – oder mindestens einmal die Korrelation – war, dass die USA damals in der UNO eine automatische Mehrheit hatten. Alles, was die USA einbrachten, wurde von der UNO abgesegnet. Das hatte mit den damaligen Machtverhältnissen zu tun. Die Russen galten als die notorischen Quertreiber. Sie legten ständig ihr Veto ein. Und wenn man sich die damaligen Diskussionen unter führenden US-Wissenschaftlern ansieht, darunter auch Anthropologen, dann hatten sie allerlei tiefgründige Theorien für dieses permanente Veto der Russen in der UNO. Ich war damals Doktorand und machte mich gern mit drei oder vier Mitstudenten über diesen Schwachsinn lustig. Eine der Haupttheorien, die von Leuten wie Margaret Mead und andern kamen, war, der Grund für die Hartleibigkeit und das negative Verhalten der Russen in der UNO sei darin zu suchen, dass sie ihre Kinder immer in Windeln herumlaufen ließen – und das führe zu einer negativen Haltung. Und wenn sie dann als Botschafter in der UNO sitzen, sagen sie immer zu allem nein. Windelogie nannten wir das – es war die große, tiefschürfende Theorie zu alledem.
Aber im Lauf der Jahre haben sich die Dinge verändert; jetzt sind es die USA, die in der UNO isoliert sind. Sie sind diejenigen, die immer ein Veto einlegen – bei mehr Resolutionen als irgendjemand sonst. Die eben erwähnten Abstimmungsergebnisse sind nicht untypisch. Was ist geschehen? Nun, die UNO hat ihre moralische Autorität verloren. Im New York Times Magazineund anderswo finden sich tiefschürfende Artikel darüber, warum der Rest der Welt aus der Reihe tanzt. Wie kommt es, dass die ganze Welt gegen die USA ist? Was stimmt mit denen nicht? Schließlich haben wir die richtige Form der Kindererziehung; also müssen alle anderen, der Rest der Welt, etwas falsch machen. Und dann kommt die Tiefenanalyse, warum die Welt aus der Reihe tanzt, und was mit der Kultur im Rest der Welt bloß los ist. Und da die UNO so ihre moralische Autorität verloren hat, zahlen die USA auch ihre Beiträge nicht mehr, und auch darüber wird nicht berichtet. Jetzt sind die Vereinten Nationen selbst die Quertreiber, weil sie unseren Befehlen nicht mehr gehorchen.
Das Ganze ist ein dramatisches Beispiel für die Dienstbarkeit der Medien. Was Sie gerade erwähnt haben, ist ein weiteres. Und der Grund, warum Ihre Initiativen zu derart wütenden Reaktionen geführt haben, ist, dass sie zumindest implizit all diese Machtmechanismen bloßstellen. Und das darf man nicht. Daher die wütende Reaktion, die aber nur ein Grund mehr dafür ist, damit weiterzumachen.
Vielen Dank.
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